Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Hex

Titel: Hex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Kilometern Entfernung ein kleines Gehölz, Bäume in einer solchen Schräglage, daß die Spitzen ihrer Zweige den Boden berührten. Der eisige Wind, der in dieser Gegend niemals verebbte, hatte sie in jahrelanger Mühe niedergedrückt. Nur Heidekraut und Stechginster trotzten ihm beharrlich. Eisenstein fand es höchst passend, daß Kayssler sich in einer Gegend niedergelassen hatte, wo selbst die Kräfte der Natur miteinander im Streit lagen.
    Der See lag hinter dem kleinen Wald, und an seinem Ufer stand das Haus. Eisenstein hätte erleichtert sein sollen, als er das Anwesen endlich vor sich sah, doch nun, da er am Ziel war, spürte er nur das Bedürfnis, möglichst schnell wieder von hier zu verschwinden. Er hatte keine Angst vor Kayssler – natürlich nicht, Eisenstein bezahlte ihn –, aber da war etwas an diesem Ort und seinen Bewohnern, das ihm kalte Schauer über den Rücken jagte.
    Das Haus war zweistöckig und besaß drei spitze Schiefergiebel. Die Fenster waren blind und dunkel, selbst im Sonnenschein glänzten sie nur matt; wahrscheinlich waren sie seit Jahren nicht mehr geputzt worden. Ein Kiesweg führte zu einer Vordertreppe aus gesprungenem Marmor. Auf den drei Giebeln saßen Krähen, mindestens zwei Dutzend.
    Eisenstein lenkte den Wagen bis zum Fuß der Treppe, die hinauf zu einer mächtigen Doppeltür führte. Spätestens jetzt mußte man ihn im Inneren bemerkt haben.
    Er stoppte den Motor und stieg mit einem leisen Stöhnen aus. Schwerfällig streckte er seine Glieder und preßte den Kopf in den Nacken, bis es schmerzte. Sein ganzer Körper war von der langen, unbequemen Fahrt verspannt. Sein Chauffeur stieg erheblich in seiner Achtung, dafür, daß er sein halbes Leben in solch einem Sitz verbrachte.
    Die Haustür stand offen, aber niemand trat heraus. Höflichkeit war niemals Kaysslers Stärke gewesen, doch der Wissenschaftler wußte sehr wohl, wem er sein Einkommen und vor allen Dingen die Chance verdankte, ein Unternehmen wie dieses zu leiten. Bislang hatte ihn dies dazu bewogen, Eisenstein gegenüber zumindest die Grundregeln höflichen Benehmens einzuhalten. Daß er ihn diesmal nicht persönlich in Empfang nahm, war ungewöhnlich.
    Und noch etwas war eigenartig. Dies war Eisensteins zweiter Besuch in Kaysslers Haus, und beide Male zuvor war erheblicher Lärm von Maschinen, von Sägen und Bohrern aus dem Inneren erklungen; die Geräusche waren einer der Gründe, weshalb man die Untersuchungen in einen so abgelegenen Landstrich verlegt hatte. Ein anderer war zweifellos Kaysslers Persönlichkeit.
    Eisenstein überlegte, ob er durch einen Ruf auf sich aufmerksam machen sollte, entschied sich aber dagegen. Falls der Wissenschaftler ihn verunsichern oder gar reizen wollte, so würde Eisenstein sich nicht darauf einlassen. Er würde die Treppe hinaufsteigen, auch ohne Empfang, und so tun, als sei alles in Ordnung. Verdammt, nicht er war es, den Kayssler studieren sollte!
    Und dann kam ihm der Gedanke, daß irgend etwas hier nicht stimmte. Daß etwas geschehen war, etwas Unvorhergesehenes. Er hatte bereits die Hälfte der Stufen erklommen, als ihm seine Vernunft riet, innezuhalten. Seine Instinkte schlugen Alarm.
    Wo waren sie alle? Mindestens ein Dutzend Assistenten hatte Kayssler mit hierhergebracht. Sie konnten nicht alle zugleich im Labor sein. Es sei denn, die Wissenschaftler hätten eine ganz besondere Entdeckung gemacht. Fraglos würde sie das in den Keller gelockt haben. Das hätte auch erklärt, weshalb Kayssler auf Eisensteins Anwesenheit bestanden hatte.
    Eine vernünftige Erklärung, wie er meinte, aber keine, die ihn zu beruhigen vermochte. Warum starrten die Krähen so reglos auf ihn herab? Ganz so, als warteten sie nur auf den Augenblick, da er Aas für ihre Schnäbel war.
    Also gut. »Hallo?« rief er. »Professor Kayssler? Ist da jemand?«
    Niemand gab Antwort.
    Falls sie wirklich alle im Labor waren, war das nicht weiter verwunderlich. Die Türen zu den Kellerräumen bestanden aus zentimeterdickem Stahl. Aber konnte Kayssler wirklich so unvorsichtig sein, keinen Wächter aufzustellen, der auf unliebsame Besucher achtgab?
    Mit einemmal fühlte Eisenstein sich schrecklich verletzlich. Hier stand er nun, im schwarzen Anzug auf der weißen, efeuumrankten Marmortreppe, mit schwarzem Hut und dunkler Brille. Eine ideale Zielscheibe. Wenn nun die Franzosen von dem Unternehmen Wind bekommen hatten? Oder die Engländer, die Italiener? Oder gar alle gemeinsam?
    Seine Hand fuhr zur Innentasche

Weitere Kostenlose Bücher