Hex
riß es mit einem Ruck aus der Wunde. Wütend ließ er die Klinge ins Gras fallen. Warum hatte er nicht einfach die Pistole nehmen und seinen Verfolger erschießen können? Es war die sauberste und sicherste Methode, aber der Lärm hätte die Männer am Flugplatz aufgeschreckt. Nein, er hatte richtig gehandelt.
Sein Gegner lag verkrümmt am Boden und hielt sich stöhnend den Bauch. Als der Magier in das schmerzverzerrte Gesicht seines Opfers blickte, sah er, daß der Junge kaum zwanzig war, eher jünger. Offenbar rechnete hier niemand mit einem solchen Vorfall. Das war ein Fehler.
Der Magier wartete, bis der Blick seines Opfers sich langsam klärte und er sicher sein konnte, daß der Junge sah, was er tat. Denn was war die beste Vorstellung ohne Publikum?
Er ging vor dem verängstigten Jungen in die Knie und versuchte trotz seiner Schmerzen zu lächeln. Es gelang ihm nur mäßig. Dann griff er, wie auf der Bühne, mit der linken Hand zwischen die Finger seiner Rechten und zog ein langes rotes Tuch hervor. Dann ein blaues. Und schließlich ein gelbes. Alle drei waren miteinander verknotet, ein Stoffband von einem Meter Länge.
Fassungslos und in Panik beobachtete der Junge, was der Magier tat. Sein Mund öffnete und schloß sich in dem vergeblichen Versuch, zu sprechen. Sein ungläubiges Staunen und die Angst hatten ihm die Stimme geraubt. Das ist gut so, dachte der Magier; man spricht nicht während der Vorführung. Auch der staunende Blick des Jungen gefiel ihm. Er sollte beeindruckt sterben.
Der Magier packte seine Zaubertücher, schlang sie in einer einzigen Bewegung um den Hals des Jungen und strangulierte ihn gerade so schnell, wie sein schmerzender Arm es zuließ.
Der Propeller der Junkers F13 veranstaltete ein Höllenspektakel und machte jede Unterhaltung so gut wie unmöglich. Nun starrten Sina und Max beide schweigend aus den kleinen Fenstern und versuchten, den Flug so weit wie möglich zu genießen.
Es gab drei Sichtluken auf jeder Seite der winzigen Maschine, und alle lagen über den Tragflächen, was die Aussicht beträchtlich beschränkte. Trotzdem war Sina vom Anblick der gewaltigen Gebirgsmassive und endlosen Schneefelder tief beeindruckt. Ein Seitenblick zu Max verriet ihr, daß er genauso empfand. Seit Stunden brummte das einmotorige Flugzeug über das glitzernde Inlandeis. Der Himmel über der weißen Weite war von einem tiefen, ozeanischen Blau, und Sina war sicher, daß sie nie in ihrem Leben etwas so Schönes gesehen hatte. Nicht einmal die starken Westwinde, die die Maschine in unregelmäßigen Abständen schüttelten wie einen Papierflieger, vermochten ihre Begeisterung zu mindern.
Einmal entdeckte sie auf einer Hochebene, umrahmt von majestätischen Gipfeln, die im Sonnenschein fast violett schimmerten, den Schlittenzug eines Eskimostammes. Die Inuit ließen ihre Habe von Dutzenden von Schlittenhunden ziehen, kleinen grauen Punkten im überwältigenden Weiß der Ebene. Ein anderes Mal erblickte sie in der Ferne eine Herde von Moschusochsen und fragte sich, wovon die Tiere sich ernährten. Ansonsten aber war da nichts als unbelebte Natur, nur Eis und Schnee und spektakuläre Gebirgsketten, stumme Zeugen einer Zeit, als das Land noch nicht von Menschen heimgesucht worden war.
Max erhob sich auf der anderen Seite des schmalen Gangs von seinem Sitz und kletterte mit gebeugtem Kopf nach vorne zur Pilotenkanzel. Er öffnete die Kabinentür und rief Legrand über den Lärm der Maschine irgend etwas zu, das Sina nicht verstand. Sicher erkundigte er sich, wie lange sie noch unterwegs sein würden.
Sie lehnte sich zurück und schloß für einen Moment die Augen. Dorn hatte sie am Morgen mit seinem Kahn zur Anlegestelle des Flugplatzes geschippert, war aber selbst nicht mit von Bord gegangen. Beim Abschied hatte er erklärt, er müsse eine Messe für die Einheimischen vorbereiten; außerdem habe Legrand ihn erst vor ein paar Tagen beliefert und in so kurzer Zeit geschähe in Nuuk wenig, das sich zwischen Freunden zu erzählen lohne. Dann war er wieder in seiner Steuerkajüte mit dem roten Kreuz verschwunden und zurück in die Stadt gefahren.
Der Franzose hatte in der Einstiegsluke seiner Maschine gesessen und sie mit baumelnden Beinen erwartet. Alles sei bereit zum Start, hatte er verkündet und sie gebeten, umgehend einzusteigen. Schon wenige Minuten später hatte die F13 abgehoben. Auf Nuuks kleiner Flugpiste gab es keine Wartezeiten und Startverzögerungen. Ohnehin standen nur drei
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