Hex
Nichts sonst.
Kopfschüttelnd las er den Text ein zweites, dann ein drittes Mal. So erfreulich – wenngleich auch zwiespältig – er die Nachricht fand, so sehr erstaunte ihn doch, daß sein Vater sie ihm über Tausende von Kilometern nach Grönland übermitteln ließ. Hätte das nicht bis zu seiner Rückkehr warten können?
»Was ist es?« fragte Sina besorgt.
»Etwas Familiäres«, gab er knapp zurück und steckte den Zettel ein.
Sie glaubte ihm nicht, fragte aber vorerst nicht weiter. Statt dessen wandte sie sich an Legrand, der auf einem Stuhl am Fenster Platz genommen hatte. »Sie warten auf Ihre Bezahlung, nehme ich an.«
»Könnte man sagen«, erwiderte er grinsend.
Sie nickte und wühlte in ihrer Reisetasche nach Geld. Schließlich fand sie ein Bündel mit Dollarscheinen, das Zacharias ihnen bei ihrer letzten Besprechung mitgegeben hatte. Sie zählte den vereinbarten Betrag ab und reichte ihn dem Franzosen.
Legrand streckte die rechte Hand danach aus, um die Scheine entgegenzunehmen. Plötzlich zuckte er zusammen. Sein Arm sackte herunter. Blitzschnell schoß seine Linke vor, packte das Geld und steckte es ein.
Sina musterte ihn verwundert. »Haben Sie Schmerzen?« Legrand lächelte fahrig. »Das ist gar nichts«, sagte er eilig. »Nur eine kleine Verletzung am Oberarm.«
Kapitel 4
Der Trauerzug hatte sich schon in Bewegung gesetzt, als Larissa am Friedhof eintraf. Sie hatte die Straßenbahn nehmen müssen, weil sich am ganzen Ku’damm kein Mietautomobil hatte auftreiben lassen. Es war ihr peinlich, daß sie zu spät kam, aber niemand der Anwesenden schien es wahrzunehmen.
So schnell, wie die Pietät es eben zuließ, ging sie am Zug der schwarzgekleideten Männer und Frauen vorüber, um zu Dominiks Freunden und Verwandten an der Spitze aufzuschließen. Mindestens sechzig Menschen waren gekommen – nicht, weil sie Dominik gut gekannt hatten, sondern weil die Zacharias-Familie zur Berliner Prominenz gehörte und absehbar war, daß auch einige Klatschreporter über das Ereignis berichten würden. So scharten sich um jene, die tatsächlich um den Verstorbenen trauerten, auch solche, die hofften, ihre Namen in einer der Abendausgaben wiederzufinden: stadtbekannte Müßiggänger, gealterte Lüstlinge, Partyhasen und Filmsternchen. Mehr als alles andere befürchtete Larissa, man könne auch sie für jemanden halten, der von dem traurigen Anlaß profitieren wollte.
Im vorderen Viertel des Trauerzuges, wenige Reihen hinter Dominiks Eltern, entdeckte sie Wilhelm von Poser und seine Tochter Evelina. Von der Arroganz und Überheblichkeit, die Max’ Schwester für gewöhnlich an den Tag legte, war nichts geblieben. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, ihre Schminke verlaufen. Zum ersten Mal dachte Larissa, daß Evelina nicht wirklich das Biest war, das sie für gewöhnlich herauskehrte. Evelina hatte Dominik stets die kalte Schulter gezeigt – kein Wunder bei der sturen Beharrlichkeit, mit der er sie umgarnte –, doch jetzt erwies sich, daß sie ihn sehr wohl gemocht hatte.
Im selben Augenblick sah Evelina auf, ihr Blick fiel auf Larissa. Ein paar Sekunden lang verhärteten sich ihre Züge, dann nickte sie knapp und schaute wieder nach vorne, dorthin, wo die sechs Träger Dominiks Sarg über den Kiesweg balancierten. Larissa blickte ihr nach und wußte nicht, was sie von ihr halten sollte.
Wenig später, am blumengeschmückten Grab, nachdem sie eine Blüte auf den Sargdeckel geworfen hatte, gesellte Larissa sich zu Evelina und ihrem zukünftigen Schwiegervater. Sie wußte, daß man das von ihr erwartete, und sie war durchaus in der Stimmung für ein wenig Trost. Dominiks Tod war ihr nahegegangen.
»Schön, daß du kommen konntest«, sagte Wilhelm von Poser und schüttelte ihre Hand. Der Schatten eines Lächelns zuckte über sein Gesicht, dann schaute er wieder genauso düster drein wie alle anderen. Larissa sah, daß Evelina seine Hand hielt wie ein Kind.
»Das war doch selbstverständlich.« Es klang fade, aber es war das Beste, was ihr einfiel. »Dominik war ein guter Freund von Max.«
Von Poser nickte bedächtig. »Natürlich.«
Was tue ich hier? dachte Larissa, verwirrt über sich selbst. Ist das der erste Schritt, heile Familie zu spielen? Ein Haufen leerer Worthülsen als Zeichen, auf sein Versöhnungsangebot einzugehen? Du wirst deinen Prinzipien untreu.
»Ich habe ein Telegramm an Max geschickt«, sagte von Poser.
»Hoffentlich nimmt er es nicht zu schwer.«
»Ich habe Dominiks Tod
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