Hex
weitere Maschinen auf der Rollbahn, eine vierte war, so erfuhren sie, unerwartet bereits in der Nacht gestartet. Es gab auch keinen Tower, nur eine hölzerne Baracke, in der sich die Piloten zum Biertrinken trafen. Eine Luftüberwachung oder Flugplatzdirektion war nirgends zu sehen. Jeder Pilot entschied für sich, wann er startete und landete. Kollisionen wurden durch Sichtkontakt vermieden.
Jean-Jacques Legrand war ein großer, schlanker Mann mit dunklem Haar. Er hatte kluge, berechnende Augen, war attraktiv und wirkte nicht ganz wie der draufgängerische Abenteurer, den Sina nach Dorns Erzählungen erwartet hatte. Er sprach Deutsch mit leichtem französischem Akzent und erklärte, er beherrsche außerdem fließend das Englische, Dänische und Norwegische, tue sich aber mit dem Kauderwelsch der Inuit schwer. Trotz all der Jahre, die er hier verbracht habe, könne er sich mit ihnen nur auf dänisch verständigen. Max und Sina baten ihn, in Ittoqqortoormiit eine Weile als ihr Übersetzer zu fungieren, was er gegen entsprechende Bezahlung akzeptierte. Sina mochte ihn nicht besonders, war aber dessen ungeachtet froh, jemanden gefunden zu haben, der ihnen über die Sprachbarriere hinweghelfen konnte. Lieber wäre es ihr freilich gewesen, wenn es jemand gewesen wäre, dem sie vertrauen konnten, und kein Herumtreiber, der Schnapskisten an die Inuit verhökerte.
Und Schnapskisten hatte er wahrlich zu Dutzenden geladen. Sie füllten, ordentlich gestapelt, die gesamte hintere Hälfte der Kabine. Sina fragte sich, ob die F13 dadurch nicht zu schwer wurde, wurde aber ruhiger, als Legrand sich als fähiger Pilot entpuppte, der die Maschine sicher in der Luft hielt. Von den heftigen Windstößen abgesehen, die er gekonnt abfing, verlief der Flug ereignislos.
Nach einer Weile kam Max zurück und setzte sich wieder.
»Was sagt er?« brüllte Sina über den Krach des Propellers hinweg.
»Noch eine Stunde, wenn das Wetter so bleibt.«
Ein wenig erschrocken blickte sie ihn an. »Glaubt er denn, es wird schlechter?«
»Hat er nicht gesagt.«
»Was hältst du von ihm?«
Max lehnte sich zurück. »So wie er werden die meisten Europäer und Amerikaner sein, die sich hier oben rumtreiben. Einzelgänger, die nur auf Profit und ihre Ruhe aus sind. Ich glaube, so lange wir ihn anständig bezahlen, wird er keine Schwierigkeiten machen.«
»Er wird zuviel von dem mitbekommen, was da oben geschehen ist.«
»Glaubst du etwa, das hat er nicht ohnehin schon? Wahrscheinlich weiß er viel mehr als wir. Diese Piloten kennen sich alle untereinander, und mit ziemlicher Sicherheit sind sie alle schon hundertmal über dem Krater hin- und hergekreuzt. Ich würde das tun, an ihrer Stelle.«
»Dann sollten wir ihn fragen«, schlug sie vor.
»Später. Er sagt, er mag es nicht, wenn man ihn während des Fluges anspricht. Stört seine Konzentration, sagt er.«
Sie verzog das Gesicht, ungeduldig wegen des anstrengenden Gebrülls. »Dann soll er seinen Willen haben. Noch eine Stunde, sagst du?«
Max nickte stumm.
Sina schloß noch einmal die Augen und überlegte, wie es wäre, ihre Leben hier oben zu verbringen, in der Einöde Grönlands, wo das Eintreffen der Alkoholration wahrscheinlich das aufregendste Ereignis der Woche war. Sie hatte oft darüber nachgedacht, aus Berlin fortzugehen, den Lärm und die Hektik der Großstadt und all ihre langweiligen Verehrer hinter sich zu lassen. Immer wieder war sie zu dem Schluß gekommen, daß es allein ihre Arbeit für das Hex war, die sie zurückhielt. Nicht, weil sie die Jagd auf falsche Totenbeschwörer und kleine Männer aus dem Weltall ausfüllte; vielmehr hatte sie das Gefühl, ihre Beschäftigung mit diesen Dingen brachte die Geister der Kinder zum Verstummen.
Die Maschine landete schließlich auf einer holprigen Buckelpiste. Die Rollbahn endete direkt vor einer Felskante, und als sie ausstiegen, sahen sie zu ihrem Entsetzen, daß die Nase des Flugzeugs allerhöchstens zehn Meter vom Abgrund entfernt stand.
»Zu kurz«, erklärte Legrand wortkarg, konnte aber nicht völlig verbergen, daß auch ihm unwohl zumute war. Sina erinnerte sich, daß sie gelesen hatte, der eigentliche Flugplatz, der die Stadt mit der Außenwelt verband, befände sich zweihundert Kilometer weiter nördlich auf dem Gebiet einer Bleimine. Insofern mußten sie Legrand wohl dankbar sein, daß er es geschafft hatte, sie direkt zur Stadt zu bringen. Trotzdem raste ihr Herz beim Anblick der nahen Felskante, und Max war merklich
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