Hex
blaß geworden.
Ittoqqortoormiit war ganz anders, als sie erwartet hatten. Kaum vierzig Häuser standen weit verteilt zwischen grauen Felshängen. Das Gras wuchs hier an der Ostküste weniger dicht als in Nuuk, und überhaupt schien ihnen der ganze Ort weit weniger freundlich. Nicht einmal die bunten Fassaden der Häuser konnten daran etwas ändern. Im Hafen dümpelten ein paar Fischerboote, doch die meisten befanden sich um diese Tageszeit auf See. Die Küstengewässer galten als ideales Fanggebiet. Während sie einen schmalen Serpentinenweg hinabstiegen, bemerkten sie, daß einige Häuser die norwegische Flagge, andere die dänische gehißt hatten.
Während ihres Anflugs auf die Küste hatte Legrand sich geweigert, für sie eine Schleife über das Areal zu fliegen. Er wirkte mürrisch und ließ sich nicht einmal mit Geld davon abbringen, so schnell wie möglich zu landen. Als sie ihn nach der Explosion fragten, dachte er einen Augenblick nach, dann sagte er, daß er sich von solchen Dingen fernhalte. Nein, er sei das Gebiet noch nicht abgeflogen und kenne auch sonst niemanden, der das getan habe.
Nach der Landung blieb er bei seiner Maschine, um ihre Funktionen zu prüfen. Er versprach jedoch, ihnen möglichst schnell zur einzigen Wirtschaft in Ittoqqortoormiit zu folgen.
Zehn Minuten später erreichten die beiden das Gasthaus. Es war schon von weitem auszumachen, auch deshalb, weil es das einzige Gebäude war, das sowohl die dänische als auch die norwegische Flagge aufgezogen hatte. Der Wirt war Geschäftsmann genug, sich auf keine der rivalisierenden Seiten zu schlagen.
»Mir stinkt das alles jetzt schon ganz gewaltig«, bemerkte Max verdrießlich, als sie die Stufen zum Eingang hinaufstiegen. Sina nickte wortlos.
Der Schankraum des Gasthauses war schmutzig und roch widerwärtig nach Fisch. Die Tische waren leer, bis auf einen in der Ecke, an dem zwei Männer schweigend über ihren Bierkrügen hockten. Der Wirt sprach brüchiges Englisch, genug, um ihnen zwei Zimmer zu vermieten. Beide mit Blick auf den Hafen, wie er stolz und stotternd betonte.
Sie machten sich frisch, dann trafen sie sich in Max’ Zimmer, um ihr Vorgehen zu planen. Sie wollten am nächsten Tag einen Hundeschlitten samt Führer mieten, der sie ins Zentrum des Explosionsgebietes bringen sollte.
»Vielleicht wären ein paar Ponys oder Esel besser«, schlug Max grübelnd vor. »Wenn die Explosion wirklich das Eis getaut hat, werden wir mit einem Schlitten nicht allzuweit kommen.«
Sina riß die Augen auf und schluckte schwer. »Ich soll reiten?« fragte sie perplex. »Wie, um Himmels willen, stellst du dir das vor?«
»Du steigst auf und reitest los.«
»Sehr spaßig. Nicht jeder ist mit Pferdestall und Park aufgewachsen.«
Sie hatte geglaubt, er erlaube sich einen Spaß mit ihr, aber das Erschrecken auf seinem Gesicht war ehrlich. »Tut mir leid«, stammelte er. »Ich wollte nicht...«
»Schon gut«, half sie ihm aus der Verlegenheit, nicht ganz besänftigt, aber zugleich amüsiert über die Hilflosigkeit, die er manchmal an den Tag legte.
Seine Gedankenlosigkeit machte ihm Kummer, Zweifel zeichnete sich auf seinen Zügen ab, und Sina bereute bereits, so unfreundlich gewesen zu sein. Es war wichtig, daß sie sich auf ihre Aufgabe konzentrierten. Irgendwann einmal würde sie ihn fragen, wie es kam, daß ihm seine Herkunft so zuwider war.
Es klopfte an der Tür. Draußen stand der Wirt und hielt ihnen ein Stück Papier entgegen. Hinter ihm wartete Legrand darauf, eingelassen zu werden. Er trug eine beigefarbenen, gefütterten Overall und lächelte zum ersten Mal.
Der Wirt fuchtelte mit einem Stück Papier. Seiner umständlichen Erklärung entnahmen sie, daß schon am Morgen ein Telegramm für Max in der Funkstation eingetroffen war. Der Funker hatte es kurzerhand im Gasthaus abgegeben, in der Annahme, der Empfänger werde früher oder später dort auftauchen.
Max nahm es überrascht entgegen. Der Wirt verabschiedete sich, während Legrand sich zu ihnen gesellte. Er war jetzt weniger abweisend, ja, Sina fand, daß er beinahe heiter wirkte. Wahrscheinlich hatte er ein paar gute Geschäfte gewittert.
Max faltete den Zettel auseinander. Das Telegramm war von seinem Vater – und von geradezu erschlagender Nebensächlichkeit. Wilhelm von Poser erklärte in wenigen Worten, daß er mit der Heirat einverstanden sei, sich mit Larissa unterhalten habe und außerdem hoffe, daß Max sein Angebot, sich mit ihm zu versöhnen, annehmen werde.
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