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Hex

Titel: Hex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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gibt’s da drin bestimmt eine Treppe.«
    Sina sah aus, als wollte sie etwas Böses erwidern, doch im selben Augenblick wurde die Turmtür aufgerissen. Dorn sprang ihnen entgegen, aber es sah aus, als hüpfe eine übergroße Kugel die Treppe hinunter. Er strahlte wie ein kleines Kind. »Kommen Sie, schnell! Ich will Ihnen etwas zeigen.«
    Sina musterte ihn scharf. »Sie sind betrunken.«
    »Unsinn«, widersprach er und wischte ihren Einwand mit einer übertriebenen Handbewegung beiseite. »Kommen Sie schon, sonst ist es vorbei.«
    »Ist was vorbei?« fragte Sina beharrlich.
    Max gab ihr einen Wink. »Laß gut sein und komm mit. Es wird schon nicht so schlimm sein.«
    Er konnte ihr ansehen, daß sie ihn für unverantwortlich und allzu vertrauensselig hielt, doch sie sparte sich den Vorwurf auf und erhob sich ebenfalls. Sie trug eine seiner gestreiften Schlafanzugshosen, darüber einen grauen Pullover.
    Das Treppenhaus des Turmes war eng und roch muffig. Max beugte sich an Sinas Ohr. »Eine linksgewendelte Holztreppe mit an der Turmwand befestigter Wandwange«, flüsterte er, um sie aufzuziehen. »Wurde vorwiegend in eckige, skandinavische Fachwerktürme eingebaut. Dabei ist die Terminologie Wendeltreppe eigentlich nicht konform zu quadratischer oder rechteckiger Bauweise und...«
    »Halt den Mund.« Sie rammte ihm ihren Ellbogen vor die Brust, zu heftig und zu schmerzhaft.
    Schmollend verstummte er, konnte aber ein Grinsen nicht ganz unterdrücken.
    Die obere Turmkammer besaß rundherum vier Fenster, von denen das zur Meerseite offenstand. Ein eiskalter Wind wehte herein und stach in ihre Augen. Vor dem Fenster stand ein riesiges Fernglas, montiert auf einen Dreifuß.
    Dorn lächelte sie auffordernd an. »Sehen Sie hindurch.«
    »Aber es ist dunkel«, widersprach Sina.
    »Der Mond ist hell genug.«
    Sina warf Max einen zweifelnden Seitenblick zu, dann beugte sie sich vor.
    »Was ist da?« fragte Max neugierig, erntete aber nur ein geheimnisvolles Grinsen von Dorn.
    Sina schwieg und schaute.
    »Nun sag schon«, verlangte Max noch einmal.
    »Eisberge«, sagte sie.
    »Eisberge?« Er warf verdutzte Blicke von Sina zu Dorn.
    Der Pfarrer nickte erfreut. »Und zwar die schönsten, die mir seit Wochen untergekommen sind.«
    Max deutete irritiert auf das Fernrohr. »Sie beobachten... Eisberge?«
    »Natürlich.«
    »So wie andere Leute Sterne beobachten? Oder Tiere?«
    »Jawohl.«
    »Und deshalb wecken Sie uns?« Max konnte es noch immer nicht fassen.
    »Sie waren doch sowieso schon wach.«
    Sina zog den Kopf zurück und stieß ihn an. »Du solltest dir das mal ansehen.«
    Er starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren.
    »Nun mach schon«, verlangte sie ungeduldig.
    Zweifelnd nahm er ihren Platz ein und blickte durch das Rohr. Zuerst einmal sah er gar nichts, nur Dunkelheit und den vagen Hauch einer schimmernden Mondspiegelung auf dem Wasser. Dann aber gewöhnten sich seine Augen an das schwache Licht, und die hellen Flecken, die er für Reflexionen gehalten hatte, wurden zu dreidimensionalen Formen. Er hatte einmal Moby Dick gelesen, und dasselbe Gefühl, das er verspürt hatte, als er die erste Beschreibung des Weißen Wals verschlang, überkam ihn jetzt wieder. Nur daß es keine Wale waren, die dort riesig und scheinbar reglos durch die Finsternis zogen. Es waren Eisblöcke, wie Dorn gesagt hatte, doch zugleich waren sie auch viel mehr.
    »Das ist eine Täuschung, oder?« fragte er unsicher, ohne den Blick abzuwenden. »Ich meine, genauso, als ob man lange genug in den Himmel blickt und in den Wolken Gesichtern erkennt, oder Drachen oder...«
    »Nein«, entgegnete Dorn, »das da draußen ist echt.«
    Max blinzelte, um die Illusion zu vertreiben. Aber Dorn behielt recht: Es war keine Täuschung. Die Formen, die er sah, blieben bestehen. Die Eisberge dort draußen auf dem Meer, schimmernd im eisigen Mondlicht, waren keine groben Klötze, die irgendwann aus einem Gletscher gebrochen waren. Sie waren Kunstwerke, echte, von Menschenhand geschaffene Kunstwerke.
    Jeder einzelne Block – Max zählte insgesamt fünf – war umgeformt worden, bearbeitet wie ein Stück Marmor unter dem Meißel eines Bildhauers. Aus klobigen Eisbrocken waren Schwäne geworden, fünf gewaltige, glitzernde Schwäne, jeder in einer anderen, verblüffend lebensechten Bewegung gefroren. Mit gesenktem oder erhobenem Kopf, schlagenden oder angelegten Flügeln, aufgerissenem Schnabel oder tauchend nach Beute. Durch die Verzerrung des Fernglases ließ

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