Hex
nicht.« Sie legte Max’ Kopf sanft auf den Fellen nieder und stieg vom Schlitten.
Legrand stand ebenfalls auf. Sein Inuit-Führer wollte mit dem Abladen des Gepäcks beginnen, aber der Franzose ging dazwischen. Er fauchte etwas auf Dänisch, und der Eskimo verharrte augenblicklich. Furcht spiegelte sich in seinen Zügen.
Legrand wandte sich wütend an Sina. »Ich weiß nicht, was in Sie gefahren ist. Aber Sie können nicht ernsthaft annehmen, ich würde fünfzehn Meilen zu Fuß durch diese Einöde wandern.«
»Ich dachte, Sie mögen dieses Land – wo Sie doch schon so lange hier leben.« Ihre Stimme troff jetzt vor Hohn. Dabei hatte sie sich vorgenommen, sich auf keinen Fall auf einen Streit mit ihm einzulassen. Und doch war nun sie es, die den Ärger vom Zaun brach. Aber sie konnte nicht anders. Sie hatte sein Versteckspiel endgültig satt.
Sie gab den beiden Inuit einen Wink. Die Männer waren bereits im Lager von Lattuada instruiert worden. Jetzt hoben sie vorsichtig den reglosen Max vom Schlitten und trugen ihn über die Hügelkuppe zum Meer hinunter.
Wenig später waren Sina und Legrand allein. Der Wind fauchte von den Hochebenen des Inlandeises zur Küste herab. Im Hintergrund erklang das Rauschen und Klatschen der Wellen, die sich an der Felsküste brachen.
»Sie sind ja wahnsinnig«, fauchte Legrand. »Sie werden ohne mich niemals von hier fortkommen.«
Sie sah ihn lange und eingehend an. Dann fragte sie leise: »Wer sind Sie wirklich?«
»Hören Sie doch mit diesem Blödsinn auf!« fuhr er sie an. »Sie kennen meinen Namen und...«
»Ich habe Sie gefragt, wer Sie sind. Und ich erwarte eine Antwort.«
»Mein Name ist Jean-Jacques Legrand«, antwortete er betont. »Können wir jetzt mit diesem Schwachsinn aufhören und uns endlich wie zwei erwachsene Menschen unterhalten?«
»Halten Sie mich wirklich für so dumm? Für so einfältig?« Er erwiderte ihren starren, finsteren Blick. Dann war es ganz plötzlich, als hätte der Wind ihm den Zorn vom Gesicht geblasen. Und an seine Stelle trat etwas, das Sina noch weit weniger gefiel. Ein feines Lächeln zuckte um seine Mundwinkel.
»Nein, dumm sind Sie nicht, Fräulein Zweisam. Aber auch lange nicht so clever, wie Sie glauben.« Sein französischer Akzent war mit einemmal verschwunden. Er sprach fließendes Deutsch.
Einen Augenblick lang war sie verunsichert. »Hören Sie, nehmen Sie von mir aus den Schlitten und fahren Sie damit nach Ittoqqortoormiit.«
»Aber so einfach ist es nicht«, sagte er ruhig. Ein leiser, drohender Unterton lag jetzt in seiner Stimme.
»Was ist das? Eine Warnung?«
Legrand – oder der Mann, der sich als Legrand ausgegeben hatte – beugte sich langsam zu den Gepäckbündeln in seinem Schlitten herunter. Ohne Eile zog er seine Waffe hervor, nahm mit der Linken nacheinander die Revolver von Max und Sina und warf sie hinter sich in den Schnee.
»Ich fürchte, wir haben hier ein Problem«, sagte er und wirkte dabei fast amüsiert.
»Wer hat Sie geschickt? Die Dänen? Oder jemand aus Berlin?«
Er hielt die Waffe in der Rechten, hatte aber nicht auf Sina angelegt. Etwa fünf Meter trennten sie noch voneinander. »Sie verstehen gar nichts. Ich will Ihnen nichts tun. Ganz im Gegenteil: Es ist mir wichtig, daß Sie leben. Sie wissen doch, geteiltes Leid ist halbes Leid.«
Verwirrt sah sie ihn an. Er wirkte vollkommen siegessicher, das mochte sein Fehler sein. Lattuadas Vorschlag, Legrand die Waffen anzuvertrauen, um ihn in Sicherheit zu wiegen, war richtig gewesen. Trotzdem irritierten sie die Worte des Franzosen. »Drücken Sie sich klarer aus.«
Er lächelte freundlich. »Kopenhagen, Fräulein Zweisam. Die Kinder. Sie erinnern sich doch?«
»Nein!« Ihre Stimme klang zu laut und zu schrill. »Der Mann, heute nacht, das war...«
»Nichts als ein gekaufter Handlanger. Ein Fischer aus Ittoqqortoormiit. Ein skrupelloser Kerl, kein netter Mensch. Er ist uns in einigem Abstand gefolgt, erst bis zum Krater, dann zum Lager.«
»Sie haben ihn bezahlt, damit er stirbt. Um selbst als Held und Retter dazustehen, erhaben über jeden Verdacht.«
»Ein delikates Detail, in der Tat. Das mußte ich ihm freilich verschweigen. Aber er hat seine Rolle ganz hervorragend gespielt. Das Kartenspiel stammte natürlich von mir. Einen Weile lang haben Sie wirklich geglaubt, er sei ich, nicht wahr?«
Sie schloß eine Sekunde lang die Augen und atmete tief durch. Noch immer zeigte seine Waffe nicht in ihre Richtung. Aber sie wußte, daß sich
Weitere Kostenlose Bücher