Hex
nur ein Opfer?« Er lächelte beinahe mitfühlend.
»Ein Opfer, ganz genau«, gab sie scharf zurück.
»Eine Lügnerin sind Sie. Eine, die sich selbst belügt. Sie glauben, Sie könnten...«
Ein scharfes Krachen ertönte. Der Magier schrie auf. Plötzlich war sein rechter Arm voller Blut. Die Waffe löste sich aus seinen Fingern, fiel mit einem dumpfen Laut in den Schnee.
Sina blickte ohne Überraschung zum Hügelkamm hinauf. Oben, halb von einem Felsen verborgen, kniete Max und zielte mit einem schmalläufigen Jagdgewehr auf den Magier. Er ließ sein Opfer nicht aus den Augen.
Der Magier stand gebeugt da und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Arm. Sina konnte nicht erkennen, ob die Kugel ihn gestreift oder durchschlagen hatte. Der Schmerz aber war groß genug, um ihn auszuschalten. Die alte Verletzung tat ein übriges.
Der Magier war ein guter Verlierer. Er zwang sich zu einem gequälten Lächeln. »Das war klug, wirklich klug. Ich hätte es wissen müssen, als Sie mir Ihre Waffen überließen. Sie haben sich alle Mühe gegeben, mich in Sicherheit zu wiegen.« Er zog scharf die Luft ein und blinzelte, als die beiden Inuit herbeieilten, das Gepäck von den Schlitten luden und es über die Hügelkuppe hinweg zu Lattuadas Boot trugen. »Ihr Freund war längst wieder bei Bewußtsein, den ganzen Morgen schon. Aber dieses Gewehr, woher – ach, natürlich, Lattuada hat es Ihnen zugesteckt! Wahrscheinlich war es auch seine Idee, mir die beiden Waffen auszuhändigen. Nicht dumm. Aber ich bin auch ein wenig enttäuscht von Ihnen. Das mit den Kindern haben Sie nur gesagt, um mich aufzuhalten, oder? Lange genug, damit Ihr Freund das Gewehr zusammensetzen konnte.«
Sie hatte wirklich mit ihm über die Kinder reden wollen, wollte es noch immer, aber der richtige Zeitpunkt war endgültig verstrichen. Der unausgesprochene Waffenstillstand, der zwischen ihnen geherrscht hatte, war gebrochen. Aber etwas daran war nicht richtig: Sie und Max hatten ihn gebrochen, nicht der Magier. Plötzlich waren die Seiten verkehrt.
Du wirst dir doch jetzt keine Vorwürfe machen! erklang es empört in ihrem Hinterkopf. Er wollte Max töten! Und glaubst du wirklich, er hätte dich danach am Leben gelassen? Nein, natürlich nicht.
»Was wollen Sie jetzt tun?« fragte er. Blut tropfte rot von seiner Hand in den Schnee. »Mich töten?«
»Was würden Sie an unserer Stelle tun?«
»Mich töten.«
»Ja, ich weiß.« Sie zog mit beiden Händen ihren Fellkragen enger, bis er ihr Kinn bedeckte. »Aber es bleibt bei dem, was ich vorhin gesagt habe. Laufen Sie zurück zur Stadt, nehmen Sie Legrands Flugzeug und gehen Sie zum Teufel.«
Er starrte sie ausdruckslos an. »Sie wollen mich wirklich am Leben lassen? Das ist ein Fehler.«
Für eine Sekunde trafen sich noch einmal ihre Blicke, dann trat sie vor, um die drei Revolver aufzuheben. Der Magier machte keinerlei Anstalten, sie daran zu hindern.
Die beiden Inuit kehrten zurück, verabschiedeten sich von Max und Sina und preschten auf ihren Hundeschlitten davon. Der Magier blickte ihnen nach und mußte blinzeln, weil das Sonnenlicht gleißend vom Eis reflektiert wurde.
Sina drehte sich um und stieg den Hügel hinauf, bis sie Max erreichte.
»Auf Wiedersehen!« rief der Magier ihnen hinterher.
Die beiden aber achteten nicht mehr auf den gebeugten, blutenden Mann. Sina stützte Max, als sie über die Felskuppe kletterten und auf der anderen Seite den Hang hinabstiegen, hinunter in die Schwanenbucht des Eisarchitekten und zu seinem Kutter, der mit grollenden Maschinen für sie bereitstand.
Wenig später legte das Boot ab und schlug den Kurs nach Norden ein, zu den Bleiminen von Mestersvig, zum Flugplatz.
Kapitel 6
Zwei Tage nach Dominiks Beerdigung bemerkte Larissa, daß sie beobachtet wurde. Nicht vom Leierkastenmann und auch nicht im geheimen. Statt dessen zeigten sich ihre Beschatter ganz ungeniert, unten auf der Straße, vor dem Haus, sogar im Atelier. Überall, wo Larissa sich aufhielt, da waren auch sie, ganz unverhohlen und mit der stoischen Überheblichkeit, die Männer wie sie seit je her auszeichnete. Manchmal kamen sie allein, doch meist waren sie zu mehreren. Vier, fünf, sechs von ihnen. Sie starrten sie an, grinsten sogar, und wenn sie zurückblickte, strichen sie sich die Uniformen glatt und strafften ihre Haltung.
»Die Schwarze Reichswehr«, flüsterten ihre Kollegen im Atelier, und obgleich Larissa davon gehört hatte, fragte sie doch, ob jemand Genaueres darüber
Weitere Kostenlose Bücher