Hexen in der Stadt
andere fälschlich belasten dürfe. Wie denn in der Tat an vielen Orten zahlreiche gute Menschen in ungeheurer Angst leben. Wehe dem, der einmal den Fuß in die Folterkammer gesetzt hat! Er wird ihn niemals zurückziehen können, ehe er alles gestanden hat, was man sich nur ausdenken kann. Daß wir nicht allesamt Zauberer sind, hat nur den einen Grund, daß wir noch nicht mit der Folter in Berührung gekommen sind.
Zum zweitenmal wurde es Winter, seit die Frau in der einsamen Weinberghütte wohnte. In einer dunklen Morgenfrühe kurz vor Weihnachten lag sie noch zu Bett, hörte den Wind im Schornstein heulen und an Tür und Fenstern rütteln. Es war kalt in der Hütte. Sie hätte aufstehen, die Glutfunken auf der Herdstelle anfachen und Holz auflegen können. Aber sie konnte sich nicht dazu aufraffen. An diesem Wintermorgen war sie am Ende ihrer Kräfte angelangt, ihres Mutes, ihrer Geduld und Zuversicht, die sie fünfzehn Monate lang aufrechterhalten hatte. Sie fühlte sich dem Tode nahe und dachte, daß vielleicht keiner ihrer Lieben je davon erfahren oder nach ihr fragen würde.
Wo waren sie geblieben, Sebastian, Katrin, Sabine? Hatte er die Töchter nicht gefunden, oder waren sie noch auf dem Wege zu ihr verlorengegangen? Warum war er nicht selbst gekommen, ihr zu berichten und sie zu trösten? Sie hatte so fest geglaubt, sein Zorn würde bald vergehen und alles zwischen ihnen wieder sein wie einst. Dann hätte er wohl jede Reise abgebrochen, um zu ihr zu eilen und bei ihr zu sein im Unglück, im Kummer um die Töchter. Was war aus ihnen geworden? Lebten sie noch? Sicher nicht, sonst wären sie längst gekommen, wenigstens eine von ihnen. So viele Rufe der Sehnsucht und Ströme des Willens hatte die Mutter Tag für Tag ausgeschickt nach ihnen. Kein Lebender hätte widerstehen können, es sei denn, daß sie jene Kräfte verloren hätte, die Sebastian nicht gelten lassen wollte. In dieser Stunde zweifelte sie selbst daran und war nicht mehr als ein hilfloses, altes Weib auf dem Sterbelager.
Als es dämmerte, sah sie, daß sich die kleinen Fenstervierecke mit flaumigen Polstern füllten. Der erste Schnee fiel und würde bald Hügel, Dorf und Ebene wie ein Leichentuch bedecken. Der Gedanke schien ihr seltsam tröstlich.
In diesem Augenblick hörte sie Schritte herankommen und vor der Schwelle stampfen, dann die Stimme des Pächters, die nach ihr rief. Sie warf ihren Mantel über und öffnete. Draußen standen im Schneetreiben zwei Gestalten, der Bauer mit einem Kind auf dem Arm und eine Frau, die sie nicht gleich erkannte. Es war Jakobe. Auch sie starrte die Mutter erschrocken an und fragte, ob sie es sei. Dann fiel sie ihr weinend um den Hals. Der Bauer redete dazwischen und versuchte zu erklären, was ihm selbst ein Rätsel war. Die Frau sei heute morgen, noch im Dunkeln, auf den Hof gekommen mit dem Kind und habe zu ihr in den Weinberg hinaufgewollt, gleich, und auch das Kind habe mitgemußt. Warum, das wisse er nicht. Er hätte ihr gern Quartier auf dem Hof gegönnt.
Jakobe, als einmal ihre Tränen flossen, konnte nicht mehr aufhören zu schluchzen. Die Mutter mußte für sie reden. Sie dankte dem Bauern für seine Mühe und versprach, später hinunterzukommen und alles zu regeln. Sie nahm ihm das Kind ab, ihren jüngsten Enkel, trug ihn hinein und legte ihn aufs Bett, wo er sofort aus seinem unruhigen Halbwachsein in tiefen Schlaf versank. Jakobe folgte ihr taumelnd und sank auf den Bettrand. Die Mutter schloß die Tür, entfachte das Feuer, setzte Milch zum Wärmen daran und bettete die Tochter bequem. Gehorsam trank Jakobe die warme Milch, die ihr gereicht wurde, aber schlafen wollte sie nicht. Erst wollte sie reden, erst sollte die Mutter alles wissen.
Sie hätte es sich denken können. Das lange Gefürchtete war geschehen, das Mal auf der Schulter des jüngeren Töchterchens entdeckt worden. Die alte Gret hatte tapfer geschwiegen. Schon im Sommer war sie verhaftet worden, aber erst kurz vor ihrem bußfertigen Tode um Martini hatte sie ihr Geheimnis preisgegeben, daß eins der Kinder ihrer Herrschaft vom Teufel gezeichnet sei. Davon zu wissen, mußte sie mehr bedrückt haben, als jemand ahnte. Sie hatte mit solcher Kenntnis auf dem Gewissen nicht sterben wollen. Für das Gericht war es ein gefundenes Fressen gewesen. So deutliche Merkmale fand man nicht oft, und die Steres waren reich. So war die Kleine – drei Jahre alt! – verhaftet worden und das fünfjährige Schwesterchen gleich mit, als
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