Hexen in der Stadt
es laut weinend das jüngere nicht loslassen wollte. Es werde wohl aus dem gleichen höllischen Nest stammen, hatte der Büttel kurzerhand befunden.
Das war vor wenigen Tagen geschehen, und seitdem hatte Jakobe, neben der Angst um die Kinder, zu Hause die Hölle erlebt. Ihr Mann beschimpfte sie, weil sie das Mal verheimlicht hatte, und seine böse Mutter bestärkte ihn darin. Die schlimmsten Verdächtigungen über ihre Herkunft hatte sie anhören müssen und vergeblich gefleht, der Ratsherr möge lieber darüber nachdenken, was er zur Rettung seiner Kinder unternehmen könnte, Eingaben machen, Bußgeld bieten. In blindem Zorn hatte er geschworen, sie gingen ihn nichts mehr an, weder die Frau noch die Teufelsbrut. Da hatte sie sich keine andere Hilfe mehr gewußt als die Mutter und sich auf den Weg gemacht nach der Weinberghütte als der letzten Zuflucht, die ihr geblieben war. In der Abenddämmerung, kurz ehe die Stadttore sich schlossen, war sie aus der Stadt geschlichen, den Jüngsten, das letzte Kind, das ihr geblieben war, im Arm. Ein Bauernwagen hatte sie ein Stück Weges mitgenommen, dann, um Mitternacht auf einsamer Landstraße abgesetzt, war sie weitergewandert, den schweren, schon mehr als zweijährigen Buben bald auf dem Arm, bald auf dem Rücken schleppend, bis sie im Morgengrauen, halb erfroren im beginnenden Schneetreiben, das Dorf und den Hof des Bauern erreicht hatte.
»Hilf uns, Mutter! Nur du kannst es noch, aber du kannst es, das weiß ich.«
»Warum«, fragte Veronika leise, »glaubst du das?«
Da fuhr die Tochter in wildem Zorn auf sie los: »Verstell dich doch nicht! Ich weiß Bescheid, schon lange. Du hast immer mehr gewußt und mehr gekonnt als erlaubt ist.«
Veronika saß still da, tief erblaßt, ins Herz getroffen von der Einsicht, erkannt und verurteilt zu sein, wo sie es nie erwartet hatte. Sie fand keine Antwort, indessen die Tochter, halb von Sinnen vor blinder Angst, alles hervorsprudelte, was sie wohl seit Jahren gegen die Mutter auf dem Herzen hatte: Erinnerungen aus der frühesten Kindheit an Dinge, die ihr damals als Wunder erschienen waren, an die heilenden Hände der Mutter, deren Wirken sie argwöhnisch beobachtet hatte, und endlich, laut weinend: »Und das Mal auf der Schulter, das Teufelszeichen, das mein Kind trägt, daran bist du schuld, nur du! Weil du eine Hexe bist, Mutter!«
Danach vermochte sie nichts mehr zu sagen, nur noch zu weinen. Auch Veronika schwieg. Erst nach einer Weile, als das Schluchzen leiser wurde, legte sie Jakobe die Hand auf die zuckende Schulter und sagte: »Ich mach’s wieder gut, sei ruhig, ich helfe dir.«
Es kam keine Antwort. Jakobe war vor Erschöpfung mitten aus dem Weinen in Schlaf gesunken. Die Mutter zog das Deckbett über sie und drückte es sorgsam fest um die beiden Schlafenden. Sie schürte das Feuer und legte Holz auf, bis die prasselnden Flammen die Hütte zu durchwärmen begannen. Danach saß sie lange auf dem Schemel davor, die Hände im Schoß, und dachte nach.
Ich helfe dir – warum war ihr nicht schon längst eingefallen, wie einfach das für sie war? Hatte erst dies kommen müssen, das Ärgste, die Bedrohung der kleinen Kinder, und daß ihr die eigene Tochter die Schuld daran vorwarf? Ja, sie hatte die Schuld, wenn auch anders, als Jakobe glaubte. Sie würde sie sühnen und die Enkel retten, auch das auf andere Weise, als die Tochter es sich vorstellte. Ja, es war einfach. Kein Zauberspruch, keine übernatürlichen Kräfte waren dazu nötig. Nur ein Entschluß mußte gefaßt, Abschied genommen werden von etwas, das ihr ohnehin nicht mehr viel wert war. Warum dachte sie erst heute daran, die Waffe gegen das Böse, die sie, nur sie allein besaß, endlich anzuwenden? Sie lächelte in die Herdflamme, und es war kein wehmütiges Lächeln, sondern eins voll von düsterem Triumph.
Draußen stapfte wieder jemand durch den Schnee heran. Sie ging hinaus und traf den Knecht des Bauern, der einen größeren Krug Milch als sonst und mehr Brot brachte und fragte, ob sie sonst noch etwas brauche. Sie bat ihn, gleich noch einmal mit dem Holzschlitten zu kommen, um die fremde Frau und ihr Kind hinunter auf den Hof zu holen. Der Bauer möge sie einstweilen dort aufnehmen. Sie selbst werde etwas später hinunterkommen, um die Sache mit ihm zu bereden. Der Mann ging und wunderte sich, wie anders als sonst die alte Spinnerin mit ihm gesprochen hatte, so als hätte sie etwas zu bestimmen. Nun, das mochte der Bauer mit ihr ausmachen.
Als er
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