Hexen in der Stadt
Widerspruch ab und befahl dem Mann zu gehorchen. Da schloß er auf, ging voran und leuchtete mit seiner Laterne durch die dunklen, feuchten Gänge einer Unterwelt, in der es stöhnte, wimmerte und stank. Die letzte Tür am Fuß der untersten Treppe schloß er endlich auf, leuchtete in das enge Gelaß dahinter, trat mit erhobener Laterne beiseite und ließ den Herren den Vortritt. Der Diener Mathias blieb im Flur und betete laut und ängstlich.
Auf dem Stroh am Boden lag unter einem beschmutzten schwarzen Mantel ein menschlicher Körper. »He, du 1« rief der Schließer aus sicherem Abstand von der Tür her. »Wach auf! Hast hohen Besuch.« Es sei eben kein natürlicher Schlaf, in dem die da liege, erläuterte er, sondern ein vom Teufel verursachter, wie er die Hexen oft befalle. Mutig gemacht durch die Gegenwart des Herrn, stieß er mit dem Stiefel nach dem nackten, mageren Fuß, der unter der Decke hervorragte, packte ihn endlich und zerrte daran. »Aufwachen!« Plötzlich ließ er los und machte ein dummes Gesicht. Er riß den Mantel weg und drehte die Gestalt, die zusammengekrümmt auf der Seite lag, mit einem Ruck herum. Da sahen sie es: Sie war tot.
Der Schließer ließ sie erschrocken los und schlug das Kreuz, der Mathias betete lauter. Philipp Adolf biß die Lippe und schien eher zornig als entsetzt. »Zeig das Gesicht!« befahl er und rief seinen Diener: »Komm her und leuchte!« Mit zitternder Hand hielt der Alte die Laterne über die Leiche und wurde von seinem Herrn angefahren, er möge gefälligst still halten. Der Schließer aber, der so etwas mehr gewöhnt war, packte den Kopf der Toten an den grauen Haarsträhnen und hob ihn gegen das Licht, ein fahles ausgemergeltes Gesicht mit hohlen Augen und Wangen, ein Totenantlitz ohne den Zug irgendeiner persönlichen Ähnlichkeit.
»Mathes!« sagte der Bischof mit ganz fremder Stimme. »Guck nicht weg! Sieh sie dir an, genau! Kennst du die? Kennst du dies Weib? Hast du sie schon einmal gesehen?«
Der Diener wagte zitternd einen Blick, gehorchte, zwang sich, genauer hinzusehen. »Nein«, stammelte er, »nein, ich kenn’ sie nicht.«
Sein Herr hielt den Anblick länger aus. Endlich schüttelte er den Kopf, wandte sich ab und wischte die Stirn. »Nein, sie ist es nicht.«
Als er dies hörte, ging dem Kanzler Johannes Brandt mit einem Male der Sinn dieser ungewöhnlichen Unternehmung auf. Er hätte längst begriffen, wäre er eben nicht doch schon sehr alt gewesen und dazu, seit dem Hexenverhör am Morgen, zuinnerst verstört umhergegangen. In diesem Augenblick aber sah und hörte er so klar wie nur je, und was er wahrnahm, war vernichtend für alles, was er in seinem langen Leben in den Diensten dreier Bischöfe für rechtens gehalten hatte.
Der Schließer mußte zwei Männer durch die Gänge der Alten Münze hinausgeleiten, die kaum imstande waren, sich aufrecht zu halten, gefolgt von dem Diener, der laut betete.
Das war das Ende des großen Hexenbrennens. Nach dem Dreikönigstag, bis zu dem von Weihnachten an alle gerichtliche Tätigkeit ruhte, wurden die Prozesse nicht wieder aufgenommen, zuerst nur vertagt, dann ganz eingestellt. Die letzte Hexe, die in der Stadt verbrannt wurde, war ein totes Bündel Knochen und Lumpen, das ein Knecht des Nachrichters in der dunklen Frühe des zweiten Morgens im Jahr hinaus vor das Stadttor karrte und ohne Aufsehen verbrannte.
Alle, die noch in den Gefängnissen lagen, wurden noch vor Lichtmeß an unterschiedlichen Abenden in der Dämmerung freigelassen, ohne Ankündigung, ohne Spruch. Viele von ihnen irrten durch die Gassen und wußten nicht wohin, weil ihre Angehörigen tot oder fortgezogen, ihr Heim und Besitz verloren waren. Viele fanden die Gesundheit des Leibes und der Seele niemals wieder. Viele vermehrten nur die Schar der heimatlos Umhergetriebenen, die der Krieg über die Landstraßen jagte. Es gab manchen, der nicht sehr dankbar war für das wiedergeschenkte Leben.
Von Bischof Philipp Adolf hörte man nicht mehr viel. So rührig er sonst zum Nutzen des Stiftes gewesen war, so zurückgezogen lebte er jetzt, »geistlichen Übungen hingegeben«, wie es hieß. In Wahrheit beschäftigte ihn nur eine Frage, auf die er solange er noch zu leben hatte, die Antwort nicht finden konnte. Hatte die namenlose Hexe gelogen, wie konnten dann die vielen hundert Aussagen, die unter den gleichen Umständen gemacht waren und Todesurteile bewirkt hatten, noch für Wahrheit gelten? Hatte sie aber die Wahrheit gesprochen –
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