Hexen: Vier historische Romane (German Edition)
ausschließlich vor den Häusern ab. Bei seinen früheren Verwandtenbesuchen in Norditalien wurde dem sittenstreng erzogenen Lukas nie die Gelegenheit geboten, dieses bunte Treiben in den Städten kennen zu lernen, das ihn jetzt förmlich zum Absteigen und mitmachen einlud. Doch daran war natürlich auch heute nicht zu denken.
Kaum hatten sie das Krämerviertel wieder verlassen, weiteten sich die Gassen, und die Gebäude wurden immer gediegener.
„Hier ist unser Gasthof“, verkündete Alphonse schließlich.
Lukas blickte an dem Gebäude hoch und zählte samt Erdgeschoss fünf Stockwerke. „Mei, ist der feudal“, entfuhr es ihm, „Dein hiesiges Stammhotel?“
„Oui“, nickte Alphonse. „Von innen wird es dir mindestens so gut gefallen, wenn auch die Räume wegen der winzigen Fenster etwas zu dunkel sind.“
Nachdem sie im Hof dem Stallmeister die Pferde übergeben hatten, erinnerte Alphonse Lukas in diesmal anordnendem Ton, den Lukas nur allzu gut kannte: „Du weißt, von jetzt an sind wir endgültig Onkel und Neffe und sprechen ausschließlich italienisch. Und bitte keine Patzer!“
„Si, Zio Alfonso.”
A lphonse hatte nicht zu viel versprochen, der Gasthof bot ebenso viel Komfort wie Gemütlichkeit. Ihre Suite bestand aus zwei Schlafstuben sowie einem Aufenthaltsraum mit Esstisch, Schreibpult und einer bequemen Sitzecke. Nur düster war es wegen der winzigen Fenster in den Räumen, was jedoch Lukas’ aufgewühltes Gemüt besänftigte. Er brachte dadurch die Geduld auf, seine Verletzungen mehrmals täglich mit einer ärztlich verordneten Salbe zu behandeln und ihnen anschließend ausreichend Ruhe einzuräumen.
„Eitern sie denn wieder?“, hatte sich Alphonse am ersten Abend besorgt erkundigt, worauf Lukas ihn hatte beruhigen können:
„Zum Glück nicht, sie sind lediglich aufgescheuert.“
„Trotzdem setzt du keinen Schritt vor die Tür, ehe du dich nicht völlig beschwerdefrei bewegen kannst.“
Recht hatte er ja, musste Lukas zugeben, nur zogen sich für ihn die Stunden mit jedem Tag länger hin, besonders, wenn Alphonse ihn alleine ließ. Und er ließ ihn häufig alleine, da er Unzähliges in der Stadt zu erledigen hatte, wozu, wie Lukas ganz recht vermutete, auch Signorinabesuche gehörten. Bereits im vergangenen Winter hatte Alphonse in Mailand nach Lukas’ Maßen und italienischer Mode passende Jünglingskleidung für ihn anfertigen lassen, die er jetzt nach und nach abholte. „Wirst du alles benötigen, da ist kein Stück zu viel“, erklärte er Lukas stets, wenn der ihm Einhalt gebieten wollte.
Lukas war es peinlich, wie viel Alphonse für ihn tat. Wozu Alphonse Schuldgefühle trieben, er war überzeugt, wegen ihm habe Lukas von seinem Vater so Unsägliches erdulden müssen. Doch das traf nur bedingt zu.
Wie auch immer, Lukas hegte für Alphonse, der nicht wirklich sein Onkel, sondern der Vetter seiner Mutter war, von Kindsbeinen an Sympathie. Eins nur störte ihn an Alphonse, er war ihm gegenüber oft zu bestimmend. Dagegen hatte sich Lukas wenige Tage vor ihrer Flucht aus Tirol energisch aufgelehnt. Als Alphonse ihm seinerzeit für diese Reise einen Pass hatte ausstellen lassen, hatte er bewusst ein späteres Geburtsjahr angegeben.
„Ich muss dich bei den Maestri doch als mein Mündel und Neffe ausgeben, und dazu muss der Altersunterschied größer sein“, hatte er Lukas hinterher erklärt und dann scherzend hinzugefügt: „Abgesehen davon wird man dich mit deinem Milchbubengesicht ohnedies auf höchstens achtzehn schätzen.“
Dabei war es Alphonse, der erheblich jünger wirkte. Mit seinem flott geschnittenen rabenschwarzen Haar und seiner Knabengestalt konnte man ihn noch heute für einen Jüngling halten, zumal er oft voller Flausen steckte - er, ältester Sohn und einst Nachfolger eines Marquis‘. Lang hatte Lukas ihm dann wegen dieser Passfälschung allerdings nicht grollen können, obschon er durch sie nun zwei Jahre länger auf seine Volljährigkeit warten musste.
N ach fünf Tagen waren Lukas’ aufgescheuerte Hautstellen verheilt, und Alphonse freute sich bei ihren jetzt täglichen kurzen Spaziergängen über Lukas’ wieder natürlichen Gang.
Darüber war der Wonnemond ins Land gezogen, und einen Tag vor Lukas’ zwanzigstem Geburtstag ritt Alphonse wieder zu seiner geliebten Donna Angelina, einer jungen Witwe. Diesmal nicht, um ihr einen Besuch abzustatten, vielmehr holte er aus seiner in Angelinas Abstellhalle untergebrachten Kutsche Lukas’ Geburtstagsgeschenk
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