Hexengericht
überschlug sich. »Ich beantrage die Beendigung des Verfahrens und die unverzügliche Freilassung der Angeklagten Anne Langlois. Das Corpus Delicti, die Teufelspuppe, konnte nicht vorgelegt werden, die Zeugen haben nicht gesehen, dass die Langlois die Mahlzeiten vergiftet hat. Es gibt keinerlei Hinweise auf Hexenwerk. Die Inquisitio muss abgebrochen werden.«
Wütend schlug Henri le Brasse auf den Tisch und stand auf. »Das Gericht sieht die Beweise als gültig an! Hütet Euch davor, die Kompetenz des Gerichts infrage zu stellen!«
Zutiefst eingeschüchtert ließ sich Raphael zurück auf seinen Stuhl fallen. Was soll ich nur tun, fragte er sich. Sieht der Bürgermeister denn nicht, was für ein teuflisches Spiel Henri mit dem Leben einer untadeligen Frau spielt?
Henri war stehen geblieben und zeigte nun mit ausgestrecktem Arm auf Anne. »Gestehst du nun, dass du eine Hexe bist? Gestehst du, dass du mit dem Teufel und seinen Dämonen im Bunde bist, um deinen Mitmenschen Schaden anzutun? Gestehe im Namen unseres Herrn Jesus Christus und des heiligen Kreuzes, und dir wird Gnade gewährt.«
Anne starrte auf den Boden. Langsam, dann immer schneller schüttelte sie den Kopf. Schließlich sah sie tränenüberströmt auf und blickte Henri in die Augen. »Nein!«, sagte sie mit überraschend starker Stimme, so als wäre ihre Zunge eine Schwertspitze. Und nochmals: »Nein! Nein, ich werde nie gestehen. Niemals. Geh zur Hölle mit deinem Kreuz und deinem Herrn Jesus!«
Henri keuchte. Seine kleinen Augen waren weit aufgerissen. Der Bürgermeister musste ihn stützen. »Bringt diese Hure des Satans in die Folterkammer«, flüsterte der Inquisitor. »Wir beginnen alsbald mit der peinlichen Befragung.«
Raphael musste mit ansehen, wie der Büttel und ein Waffenträger Anne von ihrem Stuhl rissen und in den Hexenturm schafften. Henri le Brasse sammelte seine Dokumente ein. Er stob davon, ohne ein Wort mit dem Bischof, dem Bürgermeister oder den Schöffen zu wechseln. Der Aktuar folgte ihm in gebührendem Abstand. Zügig nahm auch Raphael seine Bücher und Schriften auf. Er nickte dem Bürgermeister kurz zu, dann rannte er durch die Menge hinaus auf die Straße, wo Anne gerade in einen Käfig auf einem Ochsenkarren gesperrt wurde, der sie zum Hexenturm verbringen sollte.
»Es ist noch nichts verloren, Anne«, sagte Raphael, während er versuchte, mit dem Karren Schritt zu halten.
Anne blickte ihn mild lächelnd an. »Ich werde bald sterben. Es ist gut so. Mein Leben ist nun nicht mehr wichtig.«
»Nein, nein«, sagte Raphael. »So darfst du nicht reden. Du …«
»Kümmert Euch um Luna«, unterbrach Anne den Mönch. Ihre Hände waren schneeweiß, so fest umklammerte sie die Gitterstäbe. »Sie wird jemanden wie Euch brauchen. Versprecht es mir. Versprecht es.«
Raphael schluckte schwer. »Ich verspreche es.«
Der Büttel gab den beiden Ochsen die Peitsche, und Raphael blieb keuchend hinter dem Karren zurück.
Sie hat aufgegeben, dachte Raphael. Woher soll ich da die Kraft für den Kampf gegen das Feuer nehmen? Seine Sorge galt der Korbflechterin, aber am Horizont sah er schon den nächsten Hexenprozess, dem ein weiterer folgen würde. Dann noch einer und wieder einer. Und am Ende würde es in Rouen aussehen wie in anderen Teilen Frankreichs. Hass, Gier, Neid und Denunziation wären die neuen Herren der Stadt. Und allen voran schreitet Henri le Brasse, der die Fahne der Inquisition trägt und dessen Wappen einen Scheiterhaufen darstellt. »Herr, steh uns bei«, flüsterte er.
Auf dem Hexenturm lag eine dicke Schneeschicht. Der hässliche Bau stand so friedlich da, dass man nicht glauben mochte, welch grausames Innere er verbarg.
Raphael fand Anne zusammen mit dem Prior, dem Henker und dem Schreiber in der Folterkammer. Gerade erläuterte der Henker ihr gründlich die verschiedenen Folterwerkzeuge, ihre Funktionen und die Schmerzen, die sie verursachten. Anne stand nackt und zitternd da. Bevor Raphael angekommen war, hatte man sie entkleidet und ihr die letzten Haare mit einer Fackel entfernt. Sie beachtete weder den Henker noch Henri oder Raphael.
Der Henker schloss mit den Worten: »Das alles steht dir bevor, wenn du nicht gestehst.«
Henri übernahm die Leitung der peinlichen Befragung. »Schwört sie dem Teufel und seinen Dämonen ab, bereut ihr Hexenwerk und übergibt sich der Liebe Jesu Christi, unseres Herrn, auf dass er sie von ihren Sünden reinwasche?«
Anne schwieg. Nur ihre Zähne schlugen
Weitere Kostenlose Bücher