Hexengericht
Sekretäre des Landvogts. Jeder ein frommer Bürger der Stadt. Und neben ihrer tiefen Frömmigkeit verband sie noch etwas anderes: die Gier. Die Gier nach dem Feuer, das die erste Hexe von Rouen verbrennen sollte. Anne Langlois’ Schuld stand für sie längst fest. Weder die Kirche noch der Bürgermeister würden eine Frau der Hexerei beschuldigen, wenn sie nicht eindeutige Beweise hätten. So diente der Prozess, der eine unschuldige Frau das Leben kosten könnte, nur ihrer Unterhaltung. Ein wenig Abwechslung vom eintönigen Leben. Etwas Ablenkung von den alltäglichen Problemen, mit denen ein jeder sich tagein, tagaus herumschlagen musste.
Hinter einer mächtigen Tafel saßen die Ankläger. In der Mitte Henri, rechts daneben Bürgermeister Juspierre, links daneben Bischof de Margaux und außen zwei vom Gericht bestellte Schöffen – beide ehrbare Bürger von Rouen. Vor der Tafel nahm ein Aktuar mit seinen Schreibutensilien Platz.
Hinter einem kleinen Tischchen zwischen Publikum und Klägern wartete Raphael nervös auf seinen Schützling.
»Bringt die Angeklagte herein«, rief Henri le Brasse feierlich. Die Menge verstummte.
Ein Büttel verschwand hinter einer kleinen Tür am Ende des Saales. Wenig später zerrte er Anne mit dem Rücken zu den Anwesenden herein, damit sie die Richter nicht mit ihren Blicken verhexen konnte. Die Richter inspizierten die Angeklagte gründlich. Henri fragte nach ihrem Alter und Namen, was sie wahrheitsgemäß beantwortete. Anne schien völlig ruhig.
»Sie ist angeklagt«, sagte Henri, »eine Ketzerin zu sein. Einen anderen Glauben zu haben und zu verbreiten als die heilige Kirche.«
Leises Gemurmel erfüllte den Saal.
»Glaubt sie an Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist?«, fuhr Henri fort. »Glaubt sie an Jesus Christus, geboren von der Jungfrau Maria, gekreuzigt, auferstanden und aufgefahren in den Himmel? Glaubt sie, dass der Leib Jesu Christi auf dem Altar ist?«
Anne schwieg.
»Nun?«, drängte Henri.
»Nein, ich glaube das alles nicht.«
Ein Aufschrei ging durch die Menge. Mit dieser Lästerung Gottes hatte niemand gerechnet. Raphael begann zu schwitzen. Hinter dem Tisch steckten die Ankläger die Köpfe zusammen und berieten das weitere Vorgehen. Anne stand ruhig und stolz da. Die Qualen der gestrigen Hexenproben schien sie ungewöhnlich gut überstanden zu haben.
»Ruhe!«, rief Henri. »Kann sie zaubern?«, fragte er weiter.
»Ich mache den besten Dinkeleintopf der Stadt«, antwortete Anne. »Manche behaupten, das wäre Zauberei.«
Das Publikum lachte und klopfte sich auf die Schenkel.
»Ruhe!«, brüllte Henri erneut. »Also kann sie nicht zaubern?«
»Nein.«
»Hat sie böse Geister in Zirkel, Ringe oder Spiegel gebannt?«, fragte Henri. »Und den Menschen, welche ihr verhasst waren, dadurch Schaden zuzufügen gesucht, dass sie deren Bilder von Wachs oder Blei durchbohrte?«
»Nein«, gab Anne zurück. »Was für eine merkwürdige Frage.«
Henri runzelte die Stirn. »Dann ist es wohl auch eine merkwürdige Frage, ob sie mit dem Tode und der Hölle ein Bündnis geschlossen, böse Geister angebetet, ihnen geopfert und von ihnen die Enthüllung der Zukunft sowie Unterstützung bei frevelhaften Anschlägen gegen ihre Mitmenschen verlangt hat?«
»Dann wäre ich wohl nicht hier.«
Wieder lachte das Publikum. Raphael schien es, als hätte Anne mit ihrem ungebrochenen Stolz und dem fehlenden Respekt gegenüber dem Gericht die blutgierige Meute auf ihre Seite gezogen.
Henris Augen wurden schmal. »Ich sehe, dass sie ein arg großes Maul hat! Sie soll sich zu ihrem Advokaten setzen. Die Zeugen sollen hereinkommen.«
Der Büttel öffnete kurz die Tür und winkte jemandem zu. Herein kamen Jean und Lisette Brillon.
Anne sah die beiden Freunde, sprang auf und schlug entsetzt die Hände vor ihr Gesicht. »Nein! Nein, nicht ihr!«, stammelte sie.
»Setzen!«, brüllte Henri. »Sie soll sich setzen!«
Schnell fasste Raphael Anne bei den Schultern und zog sie hinunter auf den Stuhl. Er versuchte, seine Gefühle von Fassungslosigkeit, Enttäuschung und Wut zu überspielen. Vor allem, um Anne das Gefühl zu geben, dass der Auftritt ihrer Freunde nicht das Ende bedeutete.
Nachdem ihm Jean und Lisette Namen und Beruf genannt hatten, fragte Henri le Brasse: »Die Angeklagte ist euch bekannt?«
»Ja, ehrwürdiger Vater«, antwortete Jean.
»In welcher Beziehung steht sie zu euch?«
»Sie hat ihr Haus neben unserem Hofe, ehrwürdiger Vater.«
»Arbeitet
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