Hexengericht
Henker gab ihr einen Stoß, ließ das Seil nach; da klatschte sie auch schon in das schlammgrüne Wasser der Seine.
Gespannt, mit offenem Mund, starrte die Menge auf das Geschehen am Fluss. Ging Anne unter, dann war ihre Unschuld bewiesen, oder schwamm sie auf dem Wasser wie ein Pantoffelholz? War sie eine Hexe?
Während alle Augen auf Anne gerichtet waren, beobachtete Raphael den Henker. Er war verwundert, dass der Henker das Seil noch immer fest in beiden Händen hielt. Er hätte es leicht in einer Hand führen können. Raphaels Blick glitt an dem gespannten Seil hinauf, vorbei am Flaschenzug und wieder hinunter zu dessen Ende, wo Anne gegen das Ertrinken kämpfte. Etwas stimmte hier nicht. Da traf ihn die Erkenntnis wie ein Schmiedehammer. Der Henker hielt Anne absichtlich an der Wasseroberfläche, damit sie nicht unterging und so ihre Unschuld bewiesen wäre!
»Ehrwürdiger Vater«, beschwor Raphael seinen Prior, »der Henker entstellt die Beweisfindung. Seht, er zieht an dem Seil! Anne Langlois kann gar nicht untergehen!«
Henri schien Raphael nicht zu beachten. »Es ist gut«, rief er dem Henker zu. »Zieh sie herauf!«
»Ehrwürdiger Vater«, sagte Raphael erneut, »Ihr könnt dem nicht tatenlos zusehen. Ich bitte Euch …«
»Schluss damit!«, unterbrach Henri den Mönch. »Kehrt unverzüglich zurück nach St. Albert und bereitet Euch auf den morgigen Tag vor. Ihr werdet dem Weib als Advokat vor Gericht zur Seite stehen.«
Benommen schaute Raphael dem Henker zu, wie er Anne aus dem Wasser zog. Er sollte Anne vor Gericht verteidigen? Er verfügte nicht über eine juristische Ausbildung. Kenntnisse des Rechts besaß er nur aus alten griechischen und römischen Schriften. Wie sollte er Anne Langlois’ Leben und ihre Seele verteidigen?
Der Henker brachte Anne zurück in den Hexenturm, der Pöbel folgte ihm und Henri.
Eine Weile stand Raphael noch am Ufer der ruhig dahinfließenden Seine. Dann gab er sich einen Ruck, holte sein Pferd und ritt nach St. Albert.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll, Bruder«, sagte Raphael am selben Abend im Scriptorium zu seinem Freund Bruno. Es war der Abend vor Mariä Lichtmess, und eigentlich hätten sie an den Vorbereitungen zu den Feierlichkeiten teilnehmen sollen. Doch Raphael hatte Bruno heimlich fortgezogen. Hier nun, im Scriptorium, waren sie ungestört.
Raphael stand vor seinem Pult, auf dem eine Kerze langsam herunterbrannte. Darauf lagen zwei päpstliche Bullen, der Liber Sextus und die Constitutio Clementinae. Bruno hielt die Arme über dem Bauch verschränkt und lächelte.
»Der ehrwürdige Vater hat dir ein schweres Amt aufgebürdet«, sagte Bruno.
»In der Tat«, erwiderte Raphael.
»In den Bullen hast du nichts gefunden?«
»Nein«, seufzte Raphael. »Diesen zufolge handelt der Prior den Rechten gemäß. Es gibt dort nichts, auf das ich meine Verteidigung stützen könnte. Rein gar nichts.«
»Hm«, machte Bruno und rieb sich sein fleischiges Kinn. »Erinnerst du dich an den vergangenen Frühling, als man Baptiste Vadé wegen Rauferei und Trunkenheit einkerkerte?«
»Ja.« Raphael wusste nicht, worauf sein Freund hinauswollte.
»Vadé hat gerauft. Und er hat getrunken. Seine Festnahme war rechtens. Doch du hast ohne weiter nachzudenken Bürgermeister Juspierre aufgesucht und ihm in deutlichen Worten nahe gelegt, Vadé unverzüglich freizulassen.«
»Vadé ist Eigentum der Kirche«, sagte Raphael und blickte verlegen zu Boden.
»War das Eigentumsrecht der Grund, warum du eingegriffen hast, Bruder?«, fragte Bruno.
»Nein«, antwortete Raphael leise.
»In der Tat, dir ging es um den Menschen. Die Schergen haben Vadé misshandelt, seine Frau war guter Hoffnung. Du hast dafür gesorgt, dass Vadé unverzüglich freikam, und noch dazu den entstandenen Schaden vom Bürgermeister ersetzt bekommen – und das Geld anschließend Vadé gegeben.«
Raphael nickte langsam. »Ich glaube, ich verstehe.«
Bruno lächelte gutmütig. »Tu das, was du für richtig hältst, Bruder. Sag das, was dir richtig erscheint. Vertraue dem Herrn, denn Er wird dein Herz sprechen lassen.«
»Ja«, sagte Raphael. Er streckte seine müden Glieder. »Ich danke dir, Bruder.«
Bruno winkte ab. »Und jetzt geh schlafen. Sammle deine Kräfte. Du wirst sie morgen brauchen.«
Der Hexenprozess
D er Gerichtssaal der Stadt Rouen war überfüllt mit Menschen. Hier saßen Bäcker Roche und seine Frau, dort der Waffenschmied Malaut mit seinen Söhnen, hinter den Bänken standen
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