Hexengold
wieder ziehen die polnischen Truppen vorbei, fallen hie und da auch in unsere Straßen ein. Sowohl die einen wie die anderen Soldaten tun alles, sich an uns für die vielen Gefechte schadlos zu halten. Längst sind alle Vorräte an Bernstein entweder geraubt oder beschlagnahmt.«
Die Uhr an der Kirche gegenüber schlug Viertel vor zehn. Schweigend kam die Mutter aus dem Laboratorium zurück. Das spitze Gesicht war blass, die smaragdgrünen Augen blickten ziellos umher. Die schlanken Finger umschlossen den Anhänger auf ihrer Brust. Nur zu gut kannte Carlotta den honiggelben Stein mit dem sechsbeinigen Insekt und wusste, weshalb die Mutter ihn stets bei sich trug. Entsetzt hielt sie den Atem an: Die Mutter überlegte doch nicht etwa, Lindströms wegen den Bernstein zu opfern? Als konnte sie ihre Gedanken lesen, wandte sich die Mutter in diesem Moment zu ihr um. Ihre Blicke trafen sich. Entschlossen streckte Carlotta ihr die Phiole hin, sagte jedoch nichts.
»Was ist das?« Magdalenas Stimme klang kraftlos. Hinter der zierlichen Gestalt tauchten die nicht weniger schmächtigen Umrisse des Apothekers auf. Neugierig streckte er die Nase in die Luft, um einen Blick auf das Glasgefäß zu erhaschen.
»Die Arznei für Lindström«, entgegnete Carlotta, ohne den geringsten Triumph dabei zu verspüren. »Hättest du mich gleich danach gefragt, hättest du dir viel Aufregung erspart.«
25
Lindström blieb misstrauisch. Nicht allein Magdalena gegenüber verhielt er sich argwöhnisch. Auch den Männern, die ihn Tag für Tag umgaben, sah er stets prüfend ins Gesicht, bevor er ihnen einen Napf Gerstenbrei oder einen Becher Wein abnahm. Magdalena empfand es als Wunder, ihn unter diesen Bedingungen überhaupt so weit gebracht zu haben, die Arznei tatsächlich zu trinken. Zur Behandlung seines Magenleidens verabreichte sie ihm, wie sie es einst bei Meister Johann gelernt hatte, fünfmal täglich dreißig Tropfen von der Bernsteinessenz. Allmählich ließen die Krämpfe nach.
Den vierten Tag schon wachte sie nun an Lindströms Krankenlager. Immer nur für kurze Zeit ließ sie sich von Carlotta ablösen.
Mit geschlossenen Augen lag er in dem prunkvollen Bett, die Hände flach auf die bestickte Decke gelegt. Trotz der zunehmenden Hitze stopfte sie das leinene Betttuch in Brusthöhe fest unter die Matratze. Zudem wärmte ihm ein heißer Stein die Füße. Die leicht geröteten Wangen zeigten, wie gut die zusätzlichen Maßnahmen auf seinen Körper wirkten.
»Es ist wieder Zeit«, sagte sie leise und schob ihm die freie Hand stützend unter den Nacken. Kaum merklich reckte er den Kopf, öffnete die blassen Lippen jedoch nur einen Spaltbreit. »Ihr müsst noch einige Tage lang von der Essenz trinken. Ihr merkt doch, dass es allmählich besser wird.« Die Hand mit dem Becher zitterte. Wie gern hätte sie ihm den Inhalt ins Gesicht geschüttet! Müde biss sie sich auf die Lippen, zwang sich zu Ruhe und Geduld. Ein mürrisches Knurren war seine einzige Reaktion. Dann aber schluckte er gehorsam die Tropfen, verzog angeekelt den Mund, behielt aber tapfer alles bei sich.
Magdalena wusste, dass der widerlich harzige Geschmack die Gabe nicht eben versüßte. Zu Hause in Frankfurt hätte sie frischen Zitronensaft hineingeträufelt. Zu Hause – bitter lachte sie auf. Der saure Saft hätte nicht nur die Wirkung des Bernsteinöls verstärkt, sondern auch das Aroma verbessert. Behutsam bettete sie Lindströms Kopf zurück auf das Kissen und stellte den Becher ab. Ihr Blick wanderte zum Fenster und verfing sich ziellos in der Ferne. An Zitronen war derzeit nicht zu denken. Und Frankfurt lag eine Ewigkeit hinter ihr. Ebenso das betuliche Leben als Kaufmannsgattin, das ihr Zitronensaft als Beigabe der bitteren Medizin ermöglicht hatte. Abermals lachte sie leise auf. Schon wieder sehnte sie sich nach dem bürgerlichen Dasein zurück, das sie jahrelang so vehement abgelehnt hatte! Dabei hockte sie mitten im schwedisch-polnischen Krieg fest, durchlebte das allzu vertraute Dasein im Tross und sollte sich daran freuen, jemandem aus dem Leid helfen zu können. Der einzige Trost war, dass sie das alles Eric ein Stück näher brachte. Das wusste sie tief in ihrem Herzen.
Vom rundum belagerten Thorn war es nicht mehr weit bis Königsberg. In knapp zehn Tagen schon konnte sie dort sein, wenn sie endlich aufbrechen durfte. Magdalena umfasste den Bernstein um ihren Hals. Die Gedanken verselbständigten sich weiter. In zwei Tagen war Christi Himmelfahrt.
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