Hexengold
Spuren verloren.
Die Base schien ähnliche Gedanken zu verfolgen. Ihre Blicke trafen sich, als sie auf dieselbe Stelle vor der gegenüberliegenden Wand blickten. Einst hatte dort Vinzents Pult gestanden.
»Vielleicht wäre es besser, wenn wir Vinzents Pult doch wieder hier unten aufstellen«, erklärte Adelaide und nahm einen der schweren Quartbände aus dem Regalfach. Sie schlug ihn zwar auf, warf jedoch keinen Blick hinein. »So wie er über Jahre mit Eric Seite an Seite hier gearbeitet hat, wird Mathias jetzt hier im Kontor stehen und den Platz seines Vaters – Gott hab ihn selig – einnehmen.« In der linken Hand balancierte sie das schwere Buch, um mit der rechten ein Kreuzzeichen vor der Brust zu schlagen. »Am Tisch vor dem Fenster zu sitzen ist nicht der rechte Platz für ihn.«
»Das geht mir wohl doch etwas zu schnell.« Magdalena verbarg ihren Unmut nicht. »Ein eigenes Pult haben nur die Schreiber und Kaufleute. Die Lehrjungen begnügen sich mit dem, was frei ist. Abgesehen davon: Mathias hat kaum angefangen, die Grundzüge des Kaufmännischen zu erlernen. Das wird ihn den Winter über gut beschäftigen. Noch braucht er außer den Büchern auch eine Tafel und einen Rechenschieber. Am Tisch lässt sich das alles besser erledigen. Wenn er damit durch ist, warten andere Aufgaben auf ihn. Vinzent hätte es sicher gern gesehen, wenn er bei einigen befreundeten Handelshäusern Erfahrungen sammelt. Eric ist dabei, die entsprechenden Kontakte zu knüpfen. Mit vierzehn Jahren ist dein Sohn zu jung, schon an seinem endgültigen Platz im Leben angekommen zu sein.«
Wieder spitzten die Schreiber die Ohren. Lediglich Mathias tat, als bekäme er nichts davon mit. Emsig fuhr er die Zahlenkolonnen mit den Fingern entlang, holte abermals die Schiefertafel dazu, um mit kratzendem Griffel etwas zu notieren.
Adelaide runzelte die Stirn. »Du weißt, wie dankbar ich dir und Eric bin, dass ihr uns nach Vinzents furchtbarem Tod nicht nur beigestanden, sondern sogar in eurem Haushalt aufgenommen habt. Allerdings vergisst du, dass wir immer schon hier in Frankfurt gelebt haben. Auch wenn Eric als Onkel Friedrichs Neffe ersten Grades letztlich der Haupterbe ist, haben er und Vinzent das Kontor seit Jahren gleichberechtigt geführt. Dieses Erbe seines Vaters wird Mathias jetzt antreten.« Sie bedachte Magdalena mit einem vielsagenden Blick. »Bis er das rechtmäßig darf, bin ich diejenige, die ihn vertritt. Für seinen künftigen Weg bin ich verantwortlich. Da wir aus einer jahrhundertealten Kaufmannsfamilie stammen, ist mir bestens vertraut, wie der aussehen soll.«
Magdalena musste sie nicht erst ansehen, um zu begreifen, was sie eigentlich sagen wollte. Trotzig streckte sie die schmale Brust heraus und reckte sich, um die fehlende Körperlänge vor Adelaide wettzumachen. »Du vergisst, dass Eric als sein Vormund eingesetzt wurde, bis Mathias mündig ist. Wenn er nicht da ist, vertrete ich meinen Mann.« Kurz ließ sie die Feststellung auf Adelaide wirken, dann fuhr sie fort: »Leider hat mir mein Vater nichts über die Gepflogenheiten in seinem Elternhaus verraten. Zu früh hat er das Handelshaus seiner Familie in Königsberg verlassen, um darüber Bescheid zu wissen. Von meiner Mutter aber weiß ich, dass selbst in einem Handwerksbetrieb wie dem ihres Vaters die Söhne einige Jahre außer Haus Erfahrungen sammeln, bevor sie die Meisterstelle antreten dürfen. Nichts anderes hat mir auch mein Lehrmeister über den Beruf des Wundarztes erzählt. Aber natürlich hast du recht«, lenkte sie schließlich mit spöttisch gespitztem Mund ein. »Mathias ist dein Sohn. Eric und ich können dir nur beratend zur Seite stehen. Entscheiden musst du allein. Vergiss allerdings nicht: Die Hälfte des Kontors gehört uns. Über diese Hälfte entscheiden Eric und ich, wie wir es für richtig halten.«
Starr sahen sich die beiden Frauen an. Auch die Schreiber wagten kaum zu atmen, so still war es auf einmal geworden. Im Ofen knackte das Brennholz, Mathias’ Griffel kratzte unermüdlich über den Schiefer. Draußen im Hof schlug der Hund an. Noch immer pfiff der Wind ums Haus und zerrte an Türen und Fenstern, Regen peitschte gegen die Scheiben.
»Wie du meinst«, erwiderte Adelaide nach einer Weile und schlug das schwere Buch in ihren Händen mit einem lauten Knall zu. Aus den Seiten staubte es. Sie wischte über den Einband, stellte den Band wieder ins Regal und verließ hoch erhobenen Kopfes das Kontor. Magdalena sah ihr nach, bis
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