Hexenhammer: Historischer Roman (German Edition)
er vom Lernen abgehalten wird. Außerdem bekommt er auch das Mittagessen bei uns.« Der Abt erhob sich. »Im Herbst kann er bei uns anfangen. Seid ihr einverstanden?«
Frau Nider nickte stumm. In ihrem Innersten hatte sie wie alle Mütter schon immer gewusst, dass ihr Sohn etwas Besonderes war.
Johannes war ein stilles, ernstes Kind, die Streiche und der laute Übermut seiner Altersgenossen waren ihm ein Gräuel und er ging ihnen aus dem Wege. Am liebsten streifte er alleine durch die hügeligen Wälder und Wiesen, saß an einem Bach und sah den flirrenden Libellen zu oder hing im Gras liegend seinen Gedanken nach.
Im Sommer scheute er auch nicht den langen Weg hinaus zum Eistobel, in dem er tief unten das geheimnisvolle Rauschen der Argen hören konnte. Immer wieder lief er oben an der Kante des Abbruches entlang und versuchte, einen Weg in die Tiefe zu finden, und je länger er suchte, desto stärker wuchs in ihm das Verlangen, diese fremde Welt zu betreten.
Keuchend wühlte er sich eines Tages durch das Gestrüpp, die Dornen der Brombeerschläge zerkratzten seine Haut, seine Hände klammerten sich an halbdürre Äste, die Füße rutschten über feuchtes Moos, bis er endlich von einer unterspülten Böschung aus ins Bachbett springen konnte.
»Ich bin unten!«, schrie er laut und beinahe übermütig, obwohl ihn niemand hören konnte.
Er kannte keinen Erwachsenen, geschweige denn eine Gleichaltrigen, der sich bisher hier herunter getraut hatte. Nun stand er, er, Johannes Nider, er, den sie alle für ein wenig sonderlich hielten, in einer Falte dieser Erde, die für alle anderen Isnyer genau so nah war, denen aber der Mut oder die Abenteuerlust fehlte und die sich schon allein aus Angst vor den schauerlichen Geschichten, die man sich erzählte, nie und nimmer hier herunter gewagt hätten. Hier war ab jetzt seine Wunderwelt, die jetzt nur ihm, ihm ganz allein gehörte. In einem Gumpen schwammen Fische, die sofort unter einem großen Felsbrocken verschwanden, als sein Schatten ins Wasser fiel. Er setzte sich auf einen warmen Stein und ließ seine Füße ins Wasser baumeln. Eine Bachstelze hüpfte aufgeregt hin und her, die in einem fort nach etwas Unsichtbarem pickte. Über den sonnenüberfluteten Blumen am Ufer schwebten Hunderte von Schmetterlingen und wurden plötzlich von einem leichten Windhauch verweht. Zwischen den Farnen wuchsen wilde Erdbeeren, die säuerlich schmeckten. Hoch über der Schlucht zog ein Habicht seine weiten Kreise und er sah ihm so lange zu, bis durch das helle Licht seine Augen zu tränen begannen.
Johannes fühlte tiefen Frieden in sich, er spürte förmlich, wie seine kleine Seele eins war mit der Schöpfung Gottes. Der Habicht war verschwunden. Erst als ihm ein hoher Wasserfall den Weiterweg versperrte und er nach einer gangbaren Möglichkeit suchte, sah er ihn wieder. Ein kleines Vögelchen flatterte in panischer Angst in der blauen Luft hin und her, der Habicht war höchstens ein paar Fuß über ihm, stürzte sich dann im steilen Flug auf ihn herab und trug ihn in seinen Fängen davon.
»Wieso lässt Du das zu? Wieso erschaffst Du ein Lebewesen, damit ein anderes es umbringen kann? Wieso muss so ein kleiner Vogel sterben, damit ein größerer leben kann?« Der Gleichklang in ihm war zerrissen. Ärgerlich wandte sich Johannes um und trat den Heimweg an.
Unter einer Kiefer fand er noch einen riesigen Steinpilz, den er behutsam am Stil abdrehte und unter seine Joppe steckte. Der Speichel lief ihm schon im Mund zusammen.
Endlich würde wieder einmal etwas anderes auf den Tisch kommen als der ewige Haferschleim und Hirsebrei.
An einem großen Haufen mit Waldameisen blieb er jedoch fasziniert stehen.
Diese kleinen Tiere übten eine eigenartige Anziehungskraft auf ihn aus. Stundenlang konnte er ihrem emsigen Treiben zusehen und je länger er sie beobachtete, desto mehr erkannte er, dass es sich nicht um ein planloses Gewusel handelte, sondern alles nach irgendwelchen Regeln ablief. Johannes riss Blätter von den Bäumen, setzte gefangene Ameisen darauf, die er mit einem großen Wassertropfen fixierte und dann gegen das Licht hielt. In der durchsichtigen Halbkugel erschienen die Tierchen plötzlich viel größer und er konnte sie in aller Ruhe von allen Seiten betrachten.
Bald kannte er sie zwar nicht nach Namen, aber er wusste sie zu unterscheiden: Rote Waldameisen, Gelbe Wiesenameisen, Schwarze Wegameisen, Feldameisen …
Er wusste auch, dass die Waldameisen ihren Haufen meist um
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