Hexenheide
kleines Dorf mit einem Gasthaus, wenigen Häusern und ein paar Bauernhöfen drumherum. Und dann die ausgedehnte Heide mit dunklen Wäldern und allem, puh … da wäre man nicht so einfach spazieren gegangen, wie es die Leute heute geruhsam mit ihren Hunden am Sonntagnachmittag tun! Darüber ist unten im Archiv das eine oder andere zu finden.«
»Kann ich da auch hin, in das Archiv?«, fragt Lenne.
»Nein«, ist die Antwort. »Da können wir nicht einfach irgendwelche Kinder drin rumkramen lassen.«
Lenne macht ein beleidigtes Gesicht.
»Es gab damals auch noch keine öffentlichen Beförderungsmittel«, fährt die Frau fort. Offensichtlich hat sie selbst regelmäßig und in aller Ruhe in dem Archiv rumgekramt. »Es verkehrte da so eine Art Postkutsche zwischen den Dörfern, ab und zu jedenfalls. Oder man ist mit einem Bauernkarren losgezogen oder zu Pferd. Mehr gab es nicht. Und nirgendwo Laternenpfähle. Na, da könnt ihr euch ja wohl vorstellen, dass natürlich die verschiedensten unheimlichen Geschichten die Runde gemacht haben. Die Menschen waren damals noch so einfältig, du meine Güte, an alles haben sie geglaubt, an Hexen und Gespenster, so verrückt, wie ihr sie euch gar nicht vorstellen könnt.« Sie lächelt.
»Aber erklären Sie uns doch das mit der Hexenheide«, bohrt Lenne ungeduldig weiter.
»Wie meinst du das? Warum genau sie so geheißen hat? Tja, da fragst du mich was. Gott, ja, ich bin immer mal wieder auf diese Erzählungen gestoßen … Na, sie haben wohl gedacht, dass da auf der Heide Hexen leben!« Die Frau starrt ein paar Sekunden grübelnd vor sich hin. »Da war was mit einer … meine Güte, wie hieß das Weibsbild nur …« Die Frau trommelt ärgerlich mit den Fingern auf die Theke. »Ich komme doch einfach nicht auf den Namen, wie blöd.«
»Der Name einer Hexe?«, fragt Karim, der mittlerweile dazugekommen ist.
»Karfunkel?«, schlägt Lenne vor und kichert. »Eukalypta? Griselda?«
Die Frau schnippt ungeduldig mit den Fingern. »Ja, irgend so was! Nein … nicht Griselda … hm … Aberdina! Alberdine, das war es. Ja, die wurde der Hexerei verdächtigt.«
»Was ist mit ihr passiert?«, will Lenne wissen.
»Na, sie wird wohl auf dem Scheiterhaufen gelandet sein oder so. Die Menschen waren damals nicht so zart besaitet. Oder vielleicht haben sie sie auch ertränkt.« Frau Hendriks lächelt noch einmal über das ganze Gesicht, als ob sie das für einen guten Witz halten würde.
»Das find ich aber nicht zum Lachen«, murmelt Karim mit gerunzelter Stirn. »So was macht man doch nicht!«
»Ach ja, das sind doch alles nur Geschichten«, sagt die Frau abwiegelnd. »Da wird schon ein wahrer Kern drinstecken, aber was im Lauf der Jahre alles dazuerfunden worden ist, das kann man doch nicht mehr zurückverfolgen.«
»Na vielleicht schon, wenn man in das Archiv darf«, brummt Lenne mit enttäuschtem Gesicht.
»T ja …« Frau Hendriks zieht die Schultern hoch. Sie blickt auf den kleinen Stapel Bücher, den Lenne im Arm hat. »Bist du schon fertig mit Suchen?«
»Hm, ja, ich denke, dass ich diesmal nur die hier mitnehme.«
4
Am Samstagmorgen wird Karim nur mit viel Mühe wach. Immer wieder reibt er sich die Augen. Er erinnert sich, dass er sehr unruhig geschlafen hat und immer wieder von seltsamen Träumen aufgewacht ist. In der Nacht wusste er noch genau, worum es bei den Träumen ging, aber nun sind sie wie ausgelöscht.
Er setzt sich auf die Bettkante und starrt ein paar Sekunden auf die gegenüberliegende Wand. Langsam steigt ein Bild in ihm hoch. Augen. Etwas mit grünen Augen. Er sieht eine Frau mit langen roten Locken und großen grünen Augen vor sich. Ihr Gesicht ist blass. Über ihre hellen Wangen kullern Tränen. Aber die Tränen sind nicht durchsichtig, sie sind grün. Als würden ihre Augen schmelzen. Wie grünes Glas, das tropfend schmilzt.
Karim schüttelt den Kopf. »Aber nein«, sagt er zu sich selbst. »Das ist ganz und gar nicht das, was ich geträumt hab, das denke ich mir gerade aus.« Oder doch nicht? Er weiß es nicht mehr. Schnell rennt er ins Badezimmer. Puh, das war nun wirklich kein schönes Bild, das ihm da in den Kopf gekommen ist. Jetzt aber schnell eine schöne warme Dusche.
Von unten zieht der Geruch von gebratenen Eiern hoch, und Karim kann gar nicht schnell genug in seine Kleider springen, um an den Frühstückstisch zu kommen. Sein Magen knurrt vor Hunger.
»Machst du heute noch was Schönes?«, fragt sein
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