Hexenheide
die Stimme des Lehrers, »beeilst du dich etwas?«
»Hm, ja … ich bin schon fertig.«
Nach der Schule rennt Karim schnell hinter Lenne her.
»Du willst doch sicher nach dem Fuchs suchen?«, erkundigt sich Lenne.
»Nein, nein«, sagt Karim und schüttelt heftig den Kopf. Keinesfalls will er schon wieder über die Heide laufen!
»Oh, dann ist ja gut, denn ich muss erst mal in die andere Richtung.« Lenne klopft auf ihren schweren Rucksack. »Ich muss in die Bücherei, meine Bücher zurückbringen. Die sind alle schon überfällig.«
»Soll ich mit dir gehen?«, schlägt Karim vor. Er versucht, es lässig klingen zu lassen, denn Lenne braucht nicht zu wissen, dass er ein bisschen Angst davor hat, alleine entlang der Heide nach Hause zu gehen.
»Wenn du möchtest«, meint Lenne und zuckt die Achseln.
»Mensch, wie viele hast du denn da?«, fragte Karim und zeigt auf den Rucksack.
»Sechs.«
»Und die hast du alle schon durch?« Karim liest nicht besonders viel, ein Buch pro Monat vielleicht, und wenn es ein bisschen dicker ist, kann es auch länger dauern.
Lenne nickt. »Alle.«
In der Bücherei sagt Lenne der Frau, die hinter der Theke steht, freundlich Guten Tag, und sie erwidert:
»Hallo, Lenne, da bist du ja wieder.«
Karim schlendert eine Weile an den Regalen mit Büchern entlang. Er selbst ist in der Bücherei immer nach fünf Minuten fertig, aber Lenne braucht erheblich länger.
Mit den Händen in den Jackentaschen trödelt Karim an einer Wand mit Fotos vorbei. Meistens hängen da Bilder, die er sich eigentlich nicht anschaut, Kunst interessiert ihn nicht so sehr. Doch er sieht, dass die Fotos, die dieses Mal hier hängen, alte Aufnahmen aus der Umgebung sind. »Was ist das diesmal für eine Ausstellung?«, fragt er die Frau an der Theke.
»Oh, das ist die alte Fotosammlung von Frau Sachs. Sie ist ins Pflegeheim gekommen, und beim Aufräumen ihrer Wohnung hat ihre Tochter all die alten Fotos gefunden. Sie hat uns gefragt, ob wir daran interessiert wären, und da haben wir die schönsten ausgesucht und aufgehängt. Und das hat eingeschlagen, das ganze Dorf ist schon mal zum Gucken vorbeigekommen. Man kann noch alles darauf erkennen, du musst nur genau hinsehen.«
Karim geht einen Schritt näher ran. Ja, das ist der Dorfplatz, und offensichtlich gab es da früher eine Pumpe. Die ist heute nicht mehr da. Und daneben eine Fassade mit der Aufschrift Lebensmittel . Da ist jetzt der große Supermarkt. »Lenne!«, ruft er plötzlich so laut, dass er selbst darüber erschrickt und einige Leute ärgerlich aufblicken. Oh, stimmt ja, in einer Bücherei muss man immer etwas leiser sein. Lenne kommt verwundert näher. »Euer Haus!« Er zeigt darauf.
»Ach herrje.«
»Das war früher ein Bauernhof.«
»Ja, das weiß ich. Das haben mir meine Eltern erzählt.«
»Sieh mal, die hatten auch Hühner.«
»Die hatten nicht nur Hühner. Wo jetzt unsere Küche ist, da war früher ein Stall mit an die vierzig Kühen und auch noch ein paar Ziegen«, weiß Lenne.
»Schade, der Stall ist nicht mit auf dem Bild.«
Karim geht ein Stückchen weiter. Einige der Fotos sind wohl schon sehr alt. Man kann sie kaum noch schwarz-weiß nennen, sie sind eher braungelb, so sehr haben sie sich verfärbt, und manche haben hässliche Flecken. »He, die Heide.«
»Wo?«
»Hier, auf dem. Das sieht aus wie unser Birkenwald, nur noch kleiner.«
»Da sind noch mehr Fotos von der Heide«, sagt Lenne. »Ich versteh nur nicht … diese Unterschrift … Karim, lies doch mal, was hier steht.«
Es ist eine kleine und krakelige Unterschrift. Karim beugt sich vor. »Die Her… Herenheide?«
Lenne schüttelt den Kopf. »Das ist ein x … die Hexenheide?«
Sie rümpfen beide die Nase und sehen sich an.
»Gruselig«, sagt Lenne schließlich, »eine Hexenheide!« Sie überlegt kurz und dreht sich dann plötzlich um. Mit großen Schritten stiefelt sie entschlossen auf die Theke zu. »Frau Hendriks, warum heißt die Heide auf dem einen Foto die Hexenheide ?«
Frau Hendriks sieht sie lachend an. »Ach, Kind, das kommt von den alten Geschichten. Kennst du die nicht?«
Lenne zieht die Augenbrauen hoch.
»Also, das sind Geschichten, die sind noch viel älter als die Fotos hier«, erklärt die Frau. »V ielleicht sind sie schon Hunderte von Jahren alt, all die verrückten Erzählungen. Versuch dir mal vorzustellen, wie es in dieser Gegend früher, in der Zeit vor der Straßenbeleuchtung und Neonreklame, ausgesehen hat. Das hier war nur ein
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