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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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und wartete. Horchte. Der Sturm heulte.
    Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, dass es hinter dem Regal raschelte. Beinah wäre sie aufgestanden und hätte das Regal ausgeräumt, aber dann ließ sie es bleiben. In ihrer Situation gab es Schlimmeres als eine hungrige Maus hinter Büchern.
    Es knallte. Wahrscheinlich schlug ein Fensterladen im Wind.
    Es ist alles normal, sagte sie sich, und kauerte sich in einen Sessel, niemand will dir etwas tun, niemand ist heute Nacht unterwegs und bei dem fürchterlichen Wetter schon gar nicht. So hat sich jedes Gewitter in diesem Haus angehört, und Mama ist gern hier gewesen. Sie hat sich nie gefürchtet, also beruhige dich.
    Regen trommelte unaufhörlich weiter aufs Dach. Der Donner krachte, und die Blitze zuckten über das Haus, und Elsa wünschte sich nichts sehnlicher, als in Montefiera am Kamin zu sitzen und einen Tee zu trinken.

    Aber sie war gefangen im Haus der Hexe. Das Schicksal konnte mit ihr machen, was es wollte.
     
    Er drückte leise die Türklinke herunter. Die Tür war abgeschlossen.
    »Schlüssel in der Schüssel«, hämmerte sein magerer Verstand. Aber in dem Tontopf neben der Tür lag kein Schlüssel.
    Einen Moment stand er unschlüssig im strömenden Regen. Dann hatte er eine Idee und machte einen kleinen Luftsprung.
    Er nahm einen Stein, schlug das Küchenfenster ein, öffnete den Riegel und kletterte in die Küche. Messer und Taschenlampe hatte er in der Hand, als er sich langsam und leise vorwärtsbewegte.
     
    Elsa zuckte zusammen. Dieses Geräusch eben war so klar, so deutlich und heftig gewesen, das ließ sich nicht mehr mit dem Klappern eines Fensterladens im Wind oder dem Knacken des Holzes in einem dicken Deckenbalken erklären.
    Es hörte sich an wie ein Ast, der ins Fenster gekracht war. Sie beschloss, nicht hinunterzugehen, um nachzusehen. Morgen. Morgen würde sie alles in Ordnung bringen.
     
    Die Taschenlampe brauchte er nicht mehr und schaltete sie aus. Er kannte sich so gut aus, dass er auch im Dunkeln nirgends anstieß und keinerlei Geräusch machte. Die Treppe ins Wohnzimmer war aus Stein und konnte nicht knarren. Noch nicht einmal ein Hund hätte ihn gehört, so wie ihn auch Caro vor einigen Tagen nicht gehört hatte, als er genauso leise durchs Haus geschlichen war.

    Ein leiser Windhauch wehte durchs Wohnzimmer. Er blieb stehen und atmete tief, weil er sie riechen wollte. Der Gedanke, dass der Luftzug nicht von ihrem Atem, sondern vom offenen Schlafzimmerfenster stammen könnte, kam ihm gar nicht.
    Mittlerweile hatte sich der Nebel verzogen, und ein kalter Wintermond schien ins Zimmer.
    Sein Herz war voller Liebe, und er fühlte sich ganz leicht und frei, als er das Schlafzimmer betrat und seine Schwester im Sessel sitzen sah.
     
    Wie ein Berg stand er in der Tür. Im schummrigen Licht der Kerze sah sie seine gewaltige Silhouette und das Messer in seiner Hand.
    »Edi«, sagte sie und brauchte all ihre Kraft, um ihre innere Panik zu unterdrücken. »Wolltest du mich besuchen?«
    Edi nickte und betrachtete sie. Am liebsten hätte er sich an sie gekuschelt und ihr weiches Gesicht gestreichelt, aber sie guckte so streng, und er traute sich nicht.
    Er wollte alles richtig machen. So wie er auch bei seiner Mutter alles richtig gemacht hatte. Die Treppe ins Paradies musste frei bleiben. Elsa hatte ihn gelobt, ihn in den Arm genommen und die Glatze gekrault. Er hatte begriffen, worauf es ankam.
    Edi Mut – alles gut, dachte er.
    Unendlich langsam zog ein Lächeln über sein Gesicht. Elsa sprang auf und flüchtete zur Wand. Er folgte ihr. In dem kleinen Zimmer gab es kein Entkommen. Schließlich drückte er sie mit seinem gewaltigen Bauch gegen die Wand.
    »Edi hat Elsa lieb«, sagte er.

    »Edi, tu’s nicht«, hauchte Elsa. Sie war völlig außer Atem und wie von Sinnen vor Angst. In diesem Moment begriff sie, was sie getan hatte. »Warte, Edi, ich muss dir was sagen. Ich muss dir was erklären. Es ist nicht so, wie du denkst. Du machst einen Fehler.«
    Edi schüttelte den Kopf und lächelte immer noch.
    »Morgenrot – Elsa tot«, flüsterte er und formte seinen Mund zum Kuss.
    Dann zog er mit sicherer kraftvoller Hand das Messer durch den Hals seiner Schwester. Ihr Blut schoss über den Fußboden und das Bett, das sie wenige Stunden zuvor gesäubert hatte. Mit letzter Kraft schlug sie die Augen auf und sah ihren Bruder an, der sie liebevoll betrachtete. Aber sie konnte nichts mehr sagen. Sie gab nur noch einen röchelnden, gurgelnden

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