Hexenkind
der Toskana. An diesem Novembertag war der Himmel stahlblau, die Sonne schien mehrere Stunden am Tag. Wer Zeit hatte, wusch eilig die Wäsche und hängte sie im Freien auf die Leine, bevor die nächsten, eventuell wochenlang andauernden Regenschauer einsetzten. In der Sonne war es frühlingshaft warm, und man vergaß leicht, dass in wenigen Wochen Weihnachten war.
Teresa kam um elf Uhr dreißig aus der Kirche. Enzo saß am Fenster und rauchte. Er rauchte fast rund um die Uhr und scherte sich nicht die Bohne um Teresas Gezeter. Vielleicht hörte oder verstand er es auch gar nicht.
»Verflucht noch mal, Enzo«, sagte Teresa und stellte ihre Handtasche auf die Kaminkonsole, »dieser Qualm ist unerträglich. Willst du, dass die Fliegen tot von der Wand fallen?«
»Ich bin ein Junge aus Umbrien. Hol mir das Messer, ich muss die Schafe scheren«, murmelte er.
Teresa seufzte »Was ist bloß los mit dir, Enzo? Schweigsam warst du ja schon immer, aber früher hast du wenigstens keinen Unsinn erzählt.«
Damit verschwand sie im Haus.
Beim Mittagessen verkündete Elsa, sie werde in das Haus ihrer Mutter fahren, ein bisschen aufräumen und sich umsehen, jetzt, wo das Haus nicht mehr von der Polizei versiegelt und freigegeben worden war.
»Lass das«, sagte Teresa und schüttelte den Kopf. »Besuche lieber mal wieder deinen Vater!«
»Bald. Sowie ich Zeit hab. Wie geht’s ihm?«
»Schlecht. Er magert ab und ist völlig depressiv. Vor ein paar Tagen hat ihn einer seiner Zellengenossen zusammengeschlagen. Ohne Grund. Einfach so. Aus Spaß an der Freude.«
»Und? Was ist ihm passiert?«
»Er sieht zum Fürchten aus. Aber was sag ich, es interessiert dich ja nicht. Dein Vater ist dir egal, sonst würdest du ihn ja mal besuchen.«
Teresa häufte Edi Nudelberge auf den Teller und machte ein beleidigtes Gesicht.
Elsa lachte laut auf. »Und du? Erst tönst du hier groß rum, von wegen, ›ich hol dich da raus, mein Sohn … deine Mutter schafft das … da kennst du mich schlecht …‹ Und was ist? Nichts. Aber du beruhigst dein schlechtes Gewissen, wenn du einmal in der Woche hingehst und die Mitleidsnummer abziehst.«
Edi aß mit den Fingern und schmatzte laut.
Teresa fehlten immer noch die Worte. »Mir ist der Appetit vergangen«, bemerkte sie verärgert und verließ den Raum.
Elsa seufzte. »Im Moment ist hier bei uns der Wurm drin, was Edi? Es macht keinen Spaß. Ich hätte in Siena bleiben sollen.«
»Nein, nein, nein, nein, nein«, schrie Edi und schlug dazu rhythmisch mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Schon gut, mein Alter, ich hab’s ja kapiert.« Sie tätschelte ihm die Glatze und stand auf. »Spiel was Schönes. Ich fahr jetzt los. Aber ich denke, ich bin bald zurück.« Sie küsste ihn, streichelte ihm noch mal die Wange und ging.
Edi starrte auf die Tür, hinter der sie verschwunden war, machte ein sorgenvolles Gesicht und rieb sich mit den Fäusten die Augen.
»Edi hat Elsa lieb«, murmelte er. Und dann fing er vor Freude an zu hüpfen.
81
Elsa ging langsam auf das Haus zu. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war ihr unheimlich zumute. Beinah hätte sie nach ihrer Mutter gerufen.
Der Wald war dunkel und dicht. Kein Laut war zu hören, nur ein paar Äste knackten im Wind. Das Wetter hatte sich verschlechtert. Dicke Wolken zogen auf und schoben sich vor die Sonne.
Elsa atmete tief durch und schloss die Haustür auf. In der Küche hatte sich nichts verändert. Die beiden benutzten Gläser, die in der Spüle gestanden hatten, hatte die Spurensicherung mitgenommen.
Langsam stieg sie die schmale Treppe zum ersten Stock hinauf.
Für die beiden neuen Bilder, an denen ihre Mutter kurz vor ihrem Tod gearbeitet hatte, hatte Elsa keinen Blick, sie dachte nur an das Grauen, das sie im Schlafzimmer erwartete.
Insgeheim hatte Elsa gehofft, es würde alles so sein und so aussehen wie früher, aber das zerwühlte Bett war immer noch blutdurchtränkt, die beiden Blutlachen auf der Erde waren getrocknet und braun geworden, die Flecken an der Wand sahen aus, als wären sie zwanzig Jahre alt und gehörten irgendwie zum Stein dazu.
Im Zimmer roch es süßlich nach Tod und Verwesung. Dazu kam eine merkwürdige Geruchsvariante, und Elsa überlegte, ob sie sauer oder bitter war. Ihr sonst so empfindlicher und genauer Geruchssinn war vollkommen irritiert und überfordert.
Elsa starrte wie hypnotisiert auf das Bett, in dem Sarah und Antonio sich geliebt hatten und in dem ihr Edi brutal die Kehle
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