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Hexenkind

Hexenkind

Titel: Hexenkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Schreibtischlampe zu fassen, knipste den Schalter an und aus – nichts. Es gab keinen Strom mehr. Und sie hatte nicht die geringste Ahnung, ob ihre Mutter ein Feuerzeug oder Streichhölzer im Haus hatte.
    Der Regen rauschte in den Bäumen, und sie hörte, wie das Wasser gegen die Fenster prasselte. Aber sie sah nichts mehr. Noch nicht mal mehr die Hand vor Augen.
    Oh, mein Gott, dachte sie, bitte, hilf mir.

82
    »Atmest du noch?«, fragte Teresa, als sie ins Schlafzimmer kam.
    Enzo gab keinen Ton von sich. Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und hatte die Hände auf der Brust gefaltet.
    »Das Barometer ist gefallen«, meinte sie, während sie ihre Strümpfe herunterrollte, ihre Unterwäsche auszog und ihr Nachthemd überstreifte. »Das Wetter ist fürchterlich. Draußen tobt ein Gewitter, es schüttet wie aus Eimern, und es stürmt. Soll ich die Fensterläden lieber schließen? Oder ist es dir zu dunkel, wenn du morgen Früh aufwachst?«
    Enzo antwortete nicht.
    Dafür seufzte Teresa umso lauter.
    Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe, öffnete die Schublade ihres Nachttisches, nahm einen Streifen Tabletten heraus und knipste zwei aus der Folie.
    In diesem Moment gab es einen Knall.
    »Das war der Geranientopf. Er ist von der Brüstung gekracht«, meinte sie resigniert. »Ich geh noch mal raus und stelle die anderen Töpfe auf den Boden, sonst fegt der Sturm heute Nacht noch alle runter.«
    Es hätte sie gefreut, wenn Enzo wenigstens gezuckt hätte, aber sein Gesicht blieb unbeweglich und starr.

    Teresa warf ihren Morgenmantel über und verließ das Schlafzimmer.
    Wenn er in dieser Nacht für immer die Augen zumacht, werde ich nicht um ihn weinen. Dieses Schweigen ist ja schlimmer als tot, dachte sie, während sie die Treppe hinunterging, und hatte augenblicklich ein schlechtes Gewissen. Santa Maria, Madonna mia, verzeih, flüsterte sie, so darf man nicht denken, aber es ist doch wahr.
    Auf der Terrasse blähte der Wind ihren Morgenmantel, und Teresa fror entsetzlich. So schnell sie konnte stellte sie die Blumentöpfe auf die Erde und verfluchte Enzo erneut. Sonst hatte immer er derartig unangenehme Arbeiten übernommen. Er war nachts hinausgegangen, wenn ein Tier schrie, wenn der Hund anschlug oder im Dorf ein Motor aufheulte. Er wusste, wie schnell Teresa kalte Füße bekam und sich die Blase erkältete.
    Ich habe niemanden mehr. Ich bin allein, resümmierte sie, niemand wird im Alter für mich da sein. Heilige Jungfrau, was soll ich bloß machen?
    Sie ging zurück ins Haus und verschloss die Tür sorgfältig.
    Als sie die Treppe wieder hinaufstieg kam sie an Edis Zimmer vorbei, und ohne groß zu überlegen, öffnete sie die Tür, um zu sehen, ob er ruhig schlief.
    Es war eigentümlich still im Zimmer, da Edi normalerweise leise schnarchte.
    Teresa blieb stehen und lauschte. Nichts. Die Luft stand unbeweglich im Raum und roch ganz leicht nach altem Schweiß.
    Sie tastete nach der Tischlampe, die gleich rechts auf der alten Nähmaschine stand, und knipste sie an. Sie gab nur
gedämpftes gelbliches Licht, aber es reichte, um den Raum zu beleuchten.
    Teresa blieb fast das Herz stehen. Edis Bett war leer.
    Es war mindestens zehn Jahre her, dass sie das letzte Mal die Treppe hinaufgerannt war. Daher war sie auch völlig außer Atem, als sie zu Enzo ans Bett stürzte und ihn schüttelte.
    »Wach auf, Enzo!«, schrie sie. »Edi ist nicht da. Edi ist weg. Irgendwo da draußen, bei Sturm und Regen. Kannst du mir das erklären?«
    Enzo schlug die Augen auf und sah sie entsetzt an.
    »Rede mit mir, Enzo«, flehte sie. »Hilf mir! Was machen wir denn bloß? Wo kann denn der Junge sein?«
    Enzo setzte sich mühsam auf und verzog das Gesicht vor Schmerz.
    »Edi ist ein Junge aus Umbrien. Er kommt wieder. Er hilft uns, die Schafe zu schlachten. Er rührt das Blut.«
    Teresa antwortete nicht. Mit Enzo war nicht zu reden. Aber sie wusste, dass sie das Haus durchsuchen musste. Vielleicht hatte er sich im Magazin versteckt. Oder in der Speisekammer. Auf dem Bett sitzend begann sie, ihre Strümpfe wieder anzuziehen.
    Sie würde Edi schon finden. Dies war keine Nacht, in der man es draußen aushalten konnte. Vielleicht saß er in der Küche oder hinter der Couch. Irgendwo musste er ja sein.

83
    In der Schreibtischschublade fand sie ein Feuerzeug und zündete die beiden Kerzen in den goldenen Kerzenhaltern im Schlafzimmer an. Der schwache Lichtschein gab ihr wenigstens eine Orientierungshilfe.
    Sie setzte sich in einen Sessel

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