Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
mit einbezogen werden. Am unteren Teil der Wände soll mit reichlichem Wurzelwerk und teils verfallenen Gemäuern das Erdreich dargestellt werden, aus dem Waldpflanzen, Büsche und mächtige Baumstämme emporwachsen, und das Baumgezweig soll an der gewölbten Decke ein rankenartiges Blätterdach bilden, durch das hell der Himmel blinkt. Ein grandioses Vorhaben, mit dem die Bottega noch über Jahre beschäftigte sein wird. Noch aber wurden im Palast mit Ornamentschablonen und teils auch freihändig die dortigen Baderäume ausgemalt, woran sich Lucia eifrig beteiligte. Häufig nahm Leonardo Lucia auch mit, wenn er mit Bernardino oder Giovanni in anderen noch zu bemalenden Räumen Messungen vornahm oder zu verschiedenen Tageszeiten, also bei verschiedenen Lichtverhältnissen, prüfte, welche Farben dort am besten zur Geltung kamen. Wobei Leonardo Lucia stets ebenso viel Mitspracherecht einräumte wie seinen Künstlern.
Da Giovanni der lebhaftere und unbestritten größere der beiden Künstler war, hatte Leonardo ihn vorzugsweise an seiner Seite. Der behäbige Bernardino dagegen war in der Bottega der ruhende Pol. Mit seinen zweiundvierzig Jahren der älteste dort, nahm er förmlich eine Vaterrolle ein. Er schlichtete Meinungsverschiedenheiten, wobei er auch schon mal dazwischen wetterte, doch meist spendete er Aufbau und Trost und hatte immerfort ein wachsames Auge auf die Garzoni. Als sich Lucia mal in Nicolas Abwesenheit dessen Bauzeichnungen betrachtete, wandte sich Bernardino zu ihr um und fragte sie von seinem Malplatz her:
"Was hältst du von seinen Zeichnungen?"
"Naja, er fängt doch gerade erst an, die Statik zu begreifen."
"Darüber wird es bei ihm auch nie hinausgehen. Ein Carlo wird nicht aus ihm."
Obgleich Lucia vor Augen hatte, dass diese Aussage zutraf, wollte sie Nicola verteidigen, doch Bernardino kam ihr zuvor:
"Nicola ist ein intelligenter Jüngling mit vielerlei Interessen, und jetzt muss er herausfinden, wo seine Talente liegen."
"In der Kunst wohl nicht", gab Lucia nun zu, worauf Bernardino nur skeptisch mit den Schultern zuckte.
Ja, Kunsttalent ging Nicola ab, Leonardo hatte ihn in der Bottega nur aufgenommen, weil er der Sohn seines Freundes war. An sich schade, denn alle hier mochten ihn gerne, werden ihn aber bald verlieren. Und Carlo ebenfalls. Denn Carlo wird mit beginnendem Sommer Garzone des Baumeisters Donato Bramante, der gerade den Auftrag erhalten hatte, in Mailand den Chorbau des Klosters Santa Maria delle Grazie um- und neu auszubauen. Für Carlo die beste Chance, seine praktischen Architekturkenntnisse zu erweitern, und umgekehrt wird Maestro Bramante an dem begabten Carlo bereits eine Hilfe haben.
Noch aber waren alle beisammen und hatten nicht nur Freude am Ausmalen des Palastes, sondern auch in der Bottega. Vornehmlich jeden Freitagnachmittag, wo Lucia wieder ihren Unterricht in Farbherstellung abhielt, der stets mit Gesang und Geplauder verbunden war, und auf den niemand mehr verzichten wollte. Im Gegenteil, auch die drei Gastmaler wollten sich nun gerne daran beteiligen, doch so sehr sie darum baten, ja, mit einschmeichelnden Worten darum bettelten, ihre Kollegen verwehrten es ihnen. "No", war Bernardinos häufigstes Argument, "wer sich hier nur bequem als Gastmaler betätigt, hat darauf kein Anrecht."
Abends in ihrer Wohnung glitten Lucias Gedanken häufig nach Meran und umkreisten dann meist ihren Vater. Seit sie über ihr Sippenschicksal aufgeklärt war, beurteilte sie sein früheres Verhalten gerechter. Wobei sie bedachte, dass außer ihr noch unzählige Ehefrauen und Jungfern in ganz Europa mit dem Florentiner Eisen gedemütigt und gequält wurden. Viele Männer verprügelten auch ihre Gattinnen und Kinder, das jedoch lag ihrem Vater fern, nicht mal bei seinen Lehrlingen rutsche ihm die Hand aus, er wütete stets ohne Schläge. In sofern benahm er sich sogar wünschenswerter als so manch anderer Mann, was Lucia wieder an Alphonses Ausspruch erinnerte: 'Dein Vater ist nicht der Schlechteste, er versteht es eben nicht besser.'
Schwerer belastete Lucia, dass ihr Vater die Bellesigni als verderbt und Leonardo ihr Schicksal als Makel bezeichnet hatte. Sie fühlte sich dadurch beschmutzt. Zwar betrafen diese Bezeichnungen nur jene, die sich der Blutschande schuldig gemacht hatten, doch Lucia kam sich alleine wegen ihrer starken Gefühle zu Leonardo verdorben vor, und damit kam sie nicht zurecht.
"Post für dich, Lukas!", brüllte Bernardino lachend, da gerade der Zerstampfer
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