Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
ihrer Mutter war augenblicklich ernst geworden. "Oui", sagte sie dann, "wenn dir daran liegt, kläre ich dich darüber auf. Obgleich ich dich damit verschonen wollte."
"Weshalb verschonen, Maman, wegen dieses Makels?"
"Non, weil dich diese Geschichte unnötig belasten würde. - Willst du sie trotzdem hören?"
"Oui Maman, ich bitte dich darum."
"Bon. Was ich dir nun erzähle, ma Chère, entstammt einer Überlieferung, deren Anfang zu Königin Alienors Lebzeit in Aquitanien entstanden und dann alle hundert Jahre fortgesetzt sein soll. Du hast schon gehört von ihr, erinnerst du dich?"
"Stimmt", fiel Lucia ein und wollte sich vergewissern: "Verwahrt dieses Schriftstück nicht unser Sippenprinzipal hier in seinem Meraner Stadtschloss?"
"Richtig. Sigismund, der erst kürzlich wegen seiner schweren Gicht zurückgetretene Graf von Tirol, verwahrt sie. Aber es ist eine mündliche Überlieferung, die er wörtlich auswendig kennt, und Sigismund sagt, viele hielten sie inzwischen für eine Legende. Dennoch gebe ich dir jetzt kurz gefasst ihren Inhalt wieder: Die Bellesigni sind einstmals vom Himmel - dazumal hat man gesagt von Venus - mit hohem Kunstsinn gesegnet worden. Das hat ihnen gleichermaßen Charme und Schönheit verliehen, und darin lag eine fatale Verführung für sie. Sie zogen sich untereinander so unwiderstehlich an, dass es bei vielen, vorzugsweise unter den nächsten Verwandten, zu sündiger Liebe gekommen ist."
"Sprichst du von Inzest?"
Ihre Mutter nickte und fuhr einen Moment später fort: "Oui, darum geht es. Der Inzest war bei unseren Vorfahren sehr verbreitet, weshalb unser Geschlecht so auffallend viele Irrsinnige hervorgebracht hat. Nun, die Überlieferung sagt weiter, durch den Missbrauch jenes Segens habe sich der Kunstsinn der Bellesigni allmählich verpufft, bis sie vor etwa zweihundert Jahren Reue ob dieser Sünden gezeigt hatten. Darauf habe der Himmel ihren Schöngeist wieder aufgefrischt, mit der Auflage, sich untereinander niemals mehr, und seien sie noch so entfernt miteinander verwandt, sexuell zu verbinden.
Seitdem erstreckt sich der Begriff Blutschande über unser gesamtes Geschlecht und ist auch folgenschwerer als bei anderen Menschen. Mit einer kleinen Einschränkung, begehen zwei noch unschuldige Bellesigni diesen Verstoß und setzen ihn nicht länger fort, dann bleibt ihnen weiterer Schaden erspart, und ihr eventuell gezeugtes Kind kann sogar mit besonders hohen Gaben ausgestattet sein."
Der letzte Satz erinnerte Lucia an Leonardo, auch er war ein Kind jener Blutschande, denn seine Eltern waren beide Bellesigni. Aber er war ein Genie, demnach müssten seine Eltern noch unschuldig gewesen sein. Plötzlich durchfuhr sie ein Schauer, sie begriff, weshalb ihr Vater ihr damals einen Keuschheitsgürtel hatte anlegen lassen, er hatte sie vor Alphonse beschützen wollen.
Wie Madame Rodder nun Lucias Verstörtheit auffiel, erhob sie sich mit den Worten: "Ich lass dich jetzt besser alleine. Wenn du magst, unterhalten wir uns ein andermal darüber, denn sicher hast du dann einige Fragen dazu."
"Ja, vielleicht", kam es darauf unsicher von Lucia, und während sie ihre Mutter hinausbegleitete, wollte sie von ihr erfahren, ob auch sie diese Überlieferung für eine Legende hielt. Darauf wiegte Madame Rodder nur skeptisch ihren Kopf.
Während der folgenden Tage trat das ein, was Madame Rodder ihrer Tochter hatte ersparen wollen, Lucia beschäftigte unentwegt diese fragwürdige Überlieferung. Denn einiges daraus klang für sie durchaus glaubhaft, so die hohe Anzahl der Irrsinnigen in ihrer Sippe, wie auch der auffallende Schöngeist der Bellesigni. Aber sollte unter ihnen tatsächlich diese unwiderstehliche Anziehungskraft bestehen? Sie konnte es nicht beurteilen. Dann musste sie wieder an Leonardo denken. Obschon er dem männlichen Geschlecht zuneigte, erkannte sie, dass er in sie verliebt war. Und sie war es auch in ihn. War das sexuelle Anziehung zwischen zwei Bellesigni? Gänzlich verunsichert fragte sie sich, wie sie Leonardo künftig begegnen soll. Ihr fiel lediglich ein, ihm gegenüber Abstand zu wahren, ähnlich, wie er sich ihr gegenüber seit einem dreiviertel Jahr verhielt.
Stets mit diesen Gedanken beschäftigt, musste sich Lucia bemühen, in Gegenwart anderer einen klaren Kopf zu bewahren. Das hatte ihr gestern, als Frau von Zeno in das Bellwillhaus eingezogen war, besonders viel abverlangt.
Erst als ihr Frau von Zeno heute anbot, ihr hiesiges Atelier reicher mit Regalen und Malutensilien
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