Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
Doch das konnte man als ihre gemeinsame Freude über ihr neues Sippenmitglied, den kleinen Philipp Alarich, auffassen, von dem Lucia den Künstlern, Carlo und Salai heute Früh als erstes erzählt und ihnen Alphonses Grüsse ausgerichtet hatte.
Nachdem sie das Blockhaus verlassen hatten, bat Leonardo Lucia, ihn zu begleiten. Er führte sie nach hinten durch den Hofgarten, und als sie rechtsseitig die Kutschenhalle passiert hatten, standen sie vor jenem mit Weißdornsträuchern umgebenen Gartenteil, den außer Leonardo noch nie jemand betreten hatte.
"Perfavore", deutete er auf eine schmale Öffnung in der Hecke, "geh hindurch."
"No, das kann ich nicht."
"Weshalb nicht?"
"Leonardo, weil es dein Reich ist, es wirkt weihevoller als ein Dom."
"Eben", lächelte er, "deshalb scheut sich auch jeder, hier einzutreten. Es ist ein Ort spiritueller Besinnung, mein kleiner heiliger Hain, und du hast die Reife, ihn mit mir zu teilen. Jetzt tu mir den Gefallen, wenigstens einen Schritt hineinzusetzen."
Neugier war es nicht, die Lucia veranlasste, seiner Aufforderung nachzukommen, eher zog sie das mystische Flair an, das sie darin ahnte, und so trat sie andächtig ein. Zunächst entdeckte sie in dieser Stätte, die kaum größer war als ihr Labor, nichts Außergewöhnliches. Leonardo führte sie zu einem glattflächigen Stein, der unter einer Zeder lag, und nachdem sie sich darauf niedergelassen und Leonardo sich von ihr zurückgezogen hatte, gab sie sich ihrem Herzen hin.
Erst in diesem Zustand fühlte sie die hier herrschende Weihe, die sie von außen nur geahnt hatte. Sie nahm sie immer deutlicher wahr, atmete sie ein, nahm sie mit allen Sinnen in sich auf - und plötzlich öffnete sich ihr Seelenherz zu einer Lotosblüte, deren Duft reine, grenzenlose Liebe war. Ein unbeschreibliches Erlebnis. - Und Leonardos Muse, die auch Lucia seit jeher ihren Segen spendete, lächelte still ihr Parnasslächeln.
Wie lange Lucia in diesem Zustand verweilt hatte, konnte sie hinterher nicht sagen, und es bedurfte einiger Zeit, bis sie sich wieder ins Tagesbewusstsein einfand. Langsam erhob sie sich dann, schaute nach Leonardo aus und entdeckte ihn an der Heckenöffnung. Seine Augen leuchteten so golden wie soeben ihr Inneres. Sie trat zu ihm, und auf ihrem anschließenden Weg zum Palazzo, den sie gemessenen Schrittes und schweigend zurücklegten, waren sich ihre Herzen noch näher als gestern Abend. Erst als sie den Eingang des Palazzos erreicht hatten, sagte ihr Leonardo: "Du kannst diese Meditationsstätte jederzeit aufsuchen, Cara mia, ich empfehle dir das sogar."
"Ich danke dir, Leonardo."
Als sich Lucia dann, noch erfüllt von dem soeben Erlebten, wieder im Labor befand, wusste sie, dass für sie das Wesentliche im Leben nicht alleine die Kunst darstellte, sondern mehr noch das Streben nach spiritueller Erkenntnis. Leonardos Tiefblick war das nicht entgangen, weshalb er ihr den Zutritt zu jenem kleinen Hain gewährt hatte. Zum genau richtigen Zeitpunkt. Auch begriff Lucia nun endgültig, dass alles Höhere, sei es in der Kultur oder in den Wissenschaften, nie ohne spirituelle Entwicklung erreicht werden kann. Dafür war Leonardo der beste Beweis. Sein kosmisches Wissen befähigte ihn auf vielerlei Gebieten zu Leistungen, die meist über die aller anderen Fachleute hinausragten und noch bis weit in die Zukunft Aufklärung und Bewunderung hervorrufen werden.
Dazu zählten auch seine anatomischen Kenntnisse. Mit Nicolas Vater, Arzt in Merate, sezierte er mitunter Leichen, wobei sie auf so manche neue Entdeckungen stießen, die sie stets an die Professoren der medizinischen Hochschule in Padua weitergaben. Leonardos verschiedene Aufzeichnungen darüber hatte Lucia bereits vor Augen gehabt, den menschlichen Körper von innen mit all seinen Knochen, Muskeln, Adern und Organen, und auch diese Zeichnungen waren nicht nur präzise, sondern faszinierend schön. Erst kürzlich hatte sie von ihm erfahren wollen, was nur diese Schönheit all seiner Zeichnungen ausmache, worauf er ihr erklärt hatte:
"Die Beachtung der mathematischen Gesetze, denn sie liegen der gesamten Schöpfung zugrunde. Wer die höheren, die kosmischen Gesetze der Mathematik begreift, dem erschließen sich viele Geheimnisse der Naturwissenschaft wie auch der Kunst. Denke nur an das 'Maßen' in der bildenden Kunst, das man niemals nur mit dem Verstand erlernen kann, es bedarf mindestens so sehr übersinnliches Empfinden."
Trotz dieser Weisheit entdeckte Lucia auch auf Leonardos
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