Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
Gattin wusste sich bald nicht mehr anders zu helfen, als ihm gegenüber ihre Mutterliebe zu verleugnen, indem sie Lucia in seiner Gegenwart kaum noch beachtete und sie mitunter gar wegen nichts tadelte. Das nahm er zufrieden zur Kenntnis und wurde wieder nett zu Beiden, die er in Wahrheit ja liebte.
Das hätte nun so weitergehen können, wäre dann unter den Trauergästen von Madame de Bellevilles Totenfeier nicht plötzlich wieder der allseits beliebte Alphonse aufgetaucht, der wegen seiner strengen Adelsausbildung jahrelang nicht mehr hatte hierher reisen können. Das rüttelte Meister Rodders stillgelegte Eifersucht wieder auf, und als Lucia Alphonse auf dessen Aufforderung auch noch stolz ihre Aquarellbilder vorführte, explodierte er.
So war es gekommen, dass Meister Rodder seine Tochter noch im gleichen Jahr in die Klosterschule von Brixen einwies, die eine volle Tagesreise östlich von Meran lag.
Wie eine Strafgefangene fühlte sich Lucia darin, und ihr vordem so heiteres Kindergesicht wurde düster wie ihre Klosterzelle.
Jahr um Jahr schleppte sich dahin, Lucia wurde sechs, sie wurde sieben und acht. Dann endlich erhellte sich ihr Gesicht allmählich wieder. Zunächst, als sie von ihrem Vater, der sie als einziger sporadisch besuchte, erfuhr, sie habe ein Brüderchen bekommen, den Justus. Nicht lange nach dieser erfreulichen Mitteilung trat Alphonse wieder in ihr Leben. Da er sich an Lucias noch immer währende Klosterverbannung schuldig fühlte, ritt er nun nach jedem seiner Meranbesuche heimlich zu ihr. Im Klostergarten verbrachten sie dann mit Unterhaltungen und Spielen ergötzliche Stunden. Zudem setzte sich Alphonse bei der Priorin dafür ein, dass neben Lucias Allgemeinausbildung auch ihr Kunsttalent gefördert werde. Darauf erhielt sie von Schwester Natalia Zeichen- und Modellierunterricht, und da sie dabei auffallendes Geschick bewies, erlaubte die Priorin, dass ihr die Nonnen in der Klostertöpferei auch das Töpfern beibrachten.
Fünf weitere Jahre brachte Lucia noch in den Klostergemäuern zu, während derer Meister Rodder sie nun allerdings über die Sommer- und die Winterferien stets nach Hause holte. Bei diesen Gelegenheiten lernte sie außer Justus auch nacheinander ihre zwei kleinen Schwestern kennen, die ihre Maman noch zur Welt brachte, erst die quieklebendige Eleonore und anderthalb Jahre später die erst wenige Tage alte Sybille.
Dann das Unfassbare, die Pest verschlang die zarten Leben von Eleonore und Sybille. Woran Madame Rodder fast zerbrach.
Zu Lucias dreizehntem Geburtstag holte ihr Vater sie endgültig nach Meran zurück. Doch Lucias geliebte Maman zeigte kaum Freude über ihre Rückkehr. Und im Laufe der kommenden Wochen erkannte Lucia, dass ihre Mutter nicht nur ihr, sondern allen gegenüber gleichgültig, oft schon abweisend geworden war, worunter besonders Lucias inzwischen fünfjähriger Bruder Justus litt.
Dazu sei erklärt, dass Madame Rodder reichlich ausgelastet war. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie deren umfangreiche Hausfrauenpflichten im Herrenhaus des Bellwillanwesens übernommen, das etwa hundert Schritt von ihrem eigenen Wohnhaus entfernt lag. Dabei hatte sie die Arbeiten der sechzehn auf dem Anwesen tätigen Domestiken zu überwachen, hatte häufig Gäste zu empfangen, ihres Vaters Jagdfeste zu arrangieren sowie Verwandten- und Bekanntenbesuche zu organisieren. Doch bei der Erfüllung all jener Aufgaben vermisste inzwischen jeder ihren früheren Elan, sie wurde zusehends lascher, zeitweise sogar apathisch.
Erst Jahre später soll Lucia von ihrem Großvater den Grund für die merkwürdige Veränderung ihrer Mutter erfahren, sie begann, dem Opium zu verfallen.
So trübe jetzt Lucias Familienleben verlief, in ihres Großvaters Unternehmen, wo sie nach ihrer Heimkehr die Laboranten- und gleichzeitig die Kaufmannsausbildung hatte antreten müssen, ging es umso lebhafter zu. An der Laborantenlehre fand Lucia wenig Gefallen, da sie jedoch in der Klosterschule zur folgsamen Schülerin erzogen worden war, ließ sich ihr Vater, der Labormeister und Leiter der Produktion, von ihrem allabendlichen Lernen täuschen, und sie kamen nunmehr gut miteinander zurecht. Wie einst auf seine junge Gattin, war er heute auf seine Tochter stolz. "Wenn du so weitermachst, Lucia, wirst du eine hervorragende Farblaborantin", lobte er sie in seinem Überschwang häufig, was Lucia selbst allerdings mit Recht bezweifelte.
Daneben erhielt Lucia sporadisch Malunterricht von Alphonse, der jedes
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