Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
gerne in einem großen Spiegel betrachtet, doch auf ihrem Toilettentisch stand nur ein winziger, in dem man nicht mal sein volles Gesicht sehen konnte. Um wenigstens den Sitz ihres neuen Hutes begutachten zu können, trat sie an das aufstehende Fenster und betrachtete sich in dem dicken Milchglas. Aber viel erkennen konnte sie auch darin nicht. Machte nichts, sie wusste auch so, dass ihr der Hut stand. Nicht Hut, es war ein weißes, kesses Strohhütchen, das genau zu ihrem Haarschnitt passte. Weshalb ihre neue Frisur verdecken, hatte sie sich gestern im Modistenladen gefragt, weshalb die frühere, gedemütigte Lucia sein, die drei Jahre lang schamhaft etwas zu verbergen hatte? Nein, inzwischen war sie zu einer selbstbewussten Dame erwachsen und fühlte als solche endlich festen Boden unter ihren Füssen. Jetzt entdeckte sie aus dem Fenster die bestellte Droschke, vor der Alphonse auf- und abschritt. Darauf griff sie geschwind nach dem zum Kleid gehörenden Brokatbeutel und begab sich nach unten.
Als Lucia und Alphonse bei der Kanzlei Schautze vorfuhren, sahen sie protzig die schwarze, hochglanzpolierte Bellwillkarosse dastehen. Lucias Eltern befanden sich also bereits in der Kanzlei.
"Herzklopfen?", erkundigte sich Alphonse, während sie aus ihrer Droschke stiegen, und Lucia verneinte, was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Nachdem sie die Zugglocke bedient hatten, öffnete ihnen Herrn Schautzes Sekretär die Tür und führte sie in den Advokatenraum.
Meister Rodder und der ehrwürdig in Juristenrobe gekleidete Schautze erhoben sich bei ihrem Eintreten. Madame Rodder behielt Platz.
Eisige Stille, die dann durch Lucias "Grüß Gott!" unterbrochen wurde.
Ihre Mutter antwortete leise, und Alphonse murmelte ebenfalls einen Gruß. Die beiden anderen schwiegen. Lucias wuchtiger, schwarzhaariger Vater hatte sie kurz angeblickt, drehte sich nun aber mit einer halben Wendung von ihr ab. Ihre Mutter hielt den Blick gesenkt, doch Lucia sah, dass sie ein Freudelächeln nicht unterdrücken konnte. Aha, nahm Lucia zur Kenntnis, ihr Gatte durfte ihr keine Wiedersehensfreude anmerken. Jenseits des Schreibtischs stand unbeweglich der Advokat, dessen spitzes Fuchsgesicht angespannt war, und diesseits des Tisches waren vier Besucherstühle aufgereiht, den einen hatte Madame Rodder inne, links von ihr hatte ihr Gatte gesessen und die beiden rechts von ihr, auf die Herr Schautze jetzt mit einer Handbewegung wies, waren für Lucia und Alphonse vorgesehen. Alphonse schob Lucia den äußeren Stuhl zurecht, sie aber ließ sich auf den neben ihrer Mutter nieder, worauf Alphonse rechts von Lucia Platz nehmen musste.
Meister Rodder setzte sich nicht mehr. Er entfernte sich sogar von seinem Stuhl und schritt, dass der Holzboden bebte, hinter allen vorbei ans Fenster, wo er dann schräg hinter seiner Tochter stehen blieb. Sehen konnte Lucia ihn somit nicht, wohl aber vernahm sie seinen schweren Atem, der seine Aufregung verriet.
Jetzt müsste der Advokat, der inzwischen ebenfalls Platz genommen hatte, zum Thema kommen, doch er schwieg. Auf dem Schreibtisch waren übereinander fünf flache Mappen aufgestapelt, Lucia kannte sie, es waren die Urkunden der fünf Meraner Mietshäuser, die ihr Großvater ihr hinterlassen hatte. Womöglich soll das ein Leckerbissen für mich werden, mutmaßte sie, sie wollen mich abspeisen damit, denn die dicke Mappe mit den Urkunden des Bellwillanwesens fehlte und die noch dickere mit denen des Werkes ebenfalls. Sie wird wachsam sein.
Endlich richtete der Advokat mit lauerndem Blick das Wort an Lucia: "Ich muss mich vergewissern, wer Ihr seid, weist Euch aus."
Ein plumper Trick, er hoffte, sie hätte sich keinen Ausweis erstellen lassen, und Meister Rodder hoffte es ebenfalls, was sich durch sein nervöses Hüsteln offenbarte. Lucia enttäuschte beide, holte ihren gestern erstellten Ausweis aus dem Brokatbeutel und reichte ihn dem Advokaten über den breiten Schreibtisch hin. Der las ihn mit verärgertem Ausdruck durch, nickte Meister Rodder dann zu und gab ihn Lucia zurück. Nun wollte seine Hand zu den aufgestapelten Mappen greifen, doch er zog sie langsam wieder zurück, und währenddessen schob Madame Rodder vorsichtig ihren Fuß zu dem ihrer Tochter hin, bis sich beider Füße unter ihren weiten Röcken berührten. Lucia durchrieselte ein Freudenschauer, diese Berührung bedeutete ihr mehr als die Erbschaft. Dennoch blieb sie wachsam.
"Hier habe ich die Hinterlassenschaft Eures Herrn Großvaters bereitgelegt",
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