Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
Die verstand. Und als sie beobachteten, dass der Advokat ans Fenster trat, erhoben sie sich geräuschlos von ihren Stühlen, Lucia griff sich blitzschnell alle Mappen, Madame Rodder öffnete ihr derweil leise die Tür, und im nächsten Moment huschten beide hinaus.
Draußen hasteten sie zu Lucias Droschke, Madame Rodder rief dem Kutscher zu: "Tür auf!" Der gehorchte augenblicklich, und wie er Lucia mit ihrem Beuteschatz rasch in die Droschke hoch half, gab sie ihm als Ziel die Adresse des Advokaten Häfner an. Dann bat sie ihre Mutter, Alphonse auszurichten, sie lasse sich anschließend in ihren Gasthof fahren.
"Oui, sag ich ihm", versprach Madame Rodder.
Der Kutscher, inzwischen oben auf seinem Bock, versetzte die Rösser unverzüglich in flotten Trab, schmunzelnd, denn er fand seinen Spaß daran, dass die beiden Damen diesem berüchtigten Schlitzohr Schautze offensichtlich einen Streich gespielt hatten.
Die Urkunden hatte Lucia dann Advokat Häfner anvertraut, und nun, die Sonne zog sich bereits hinter die Berggipfel zurück, erreichte sie ihren Gasthof, vor dem Alphonse sie freudig empfing.
Da beide nach diesen Erlebnissen keinen Appetit auf Abendbrot verspürten, schlenderten sie ein wenig am hiesigen Berghang entlang, wobei sie sich über den gelungenen Ausgang in der Kanzlei Schautze amüsierten. "Ein Gaunerstreich, ihm die Dokumente von seinem Schreibtisch zu stibitzen", ergötzte sich Alphonse, worauf Lucia empört tat:
"Stibitzen! Ich habe mir mit Mutters Hilfe mein Eigentum zurückerobert."
"Recht habt ihr gehabt, und flink wie die Elstern beim Dieben wart ihr. Erst wie ihr davon geflattert seid, habe ich eure Tat begriffen."
"Und Großmeister Schnauze kann Vater mal nicht erklären, wie ihm die Urkunden abhanden gekommen sind", lachte Lucia, "das kann er niemandem vorjammern, ohne zum Gespött zu werden. Wann hat er denn den leeren Schreibtisch entdeckt?"
"Das weiß ich ebenso wenig wie du, denn deine Maman und ich haben kurz darauf das Weite gesucht."
Ich wollte nicht in Schautzes Haut stecken, dachte Lucia, während sie mit Alphonse weiter spazierte. Doch ebenso wenig in Vaters Haut, der zwar vor Wut wahrscheinlich noch immer kocht, doch wenn er erfährt, dass er endgültig verloren hat, wird die Enttäuschung kommen. Und daran wird er weder sich selbst noch seinem Advokaten die Schuld geben, sondern mir.
Jetzt erinnerte Alphonse sie: "Mit dem heutigen Tag bist du ein unabhängiges, wohlhabendes Fräulein."
"Schon, Alphonse, nur ist das überschattet. Ich denke an Vater. Es war so auffällig, dass dieser Schautze ihm vorher eingeredet hat, er habe rechtlichen Anspruch auf das Werk, sogar auf den gesamten Bellwillhügel. Und obrigkeitshörig wie Vater nun mal ist, glaubt er das natürlich."
"Aber was denn, Lucia, du hast gewonnen, alles gehört jetzt dir! Bist du darüber nicht glücklich?"
"Eigentlich schon. Ich kann es wohl nur noch nicht fassen."
"Dann schlaf erst mal darüber", lächelte Alphonse.
Diesmal hatte Lucia das Überschlafen eines Problems keine Lösung beschert. Der Gedanke, ihr Vater nehme an, sie habe ihn um das Werk betrogen, trübte nach wie vor ihre Stimmung.
Ihr Vater mochte sein wie er wolle, überlegte sie, auch werde sie seine früheren Untaten an ihr wohl nie verwinden, aber das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Sie müsste ein klärendes Gespräch mit ihm führen. Ja, das werde sie versuchen, und wenn es unerlässlich wird, werde sie ihm einen Teil des Erbes anbieten oder ihm Rechte im Werk einräumen, vielleicht auch Beteiligung am Gewinn. Verflixt, begehrte sie jetzt auf, alles war gestern so gut ausgegangen, da müsse es doch auch möglich sein, sich mit ihrem Vater zu einigen.
Mit diesem Vorsatz verließ sie ihre Stube, um den Speiseraum aufzusuchen, wo längst schon Alphonse auf sie wartete.
Seit sie in diesem Gasthof logierten, war Alphonse Lucia stets entgegengekommen, wenn sie morgens den mit rustikalen Tischen und Bänken ausgestatteten Speiseraum betrat, doch heute wartete sie vergeblich darauf. Sie tat ein paar Schritte in den Raum hinein und blickte sich unter den Gästen um. - Dort saß er. und neben ihm, Lucias Herz vollzog einen Freudehüpfer, saß ihre Mutter. Wie vertraut sie miteinander redeten, Lucia verhielt ihren Schritt, um sie nicht zu stören, doch Alphonse entdeckte sie und erhob sich, worauf Lucia zu ihnen trat.
"Bon matin, Madame Mère, bon matin, Alphonse!"
"Bon matin, ma Chère!", begrüßten sie sich freudig, und während sie sich an dem
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