Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
richtete Schautze jetzt das Wort an Lucia, wobei er auf die Mappen deutete, "ich habe alle Dokumente zusammengetragen."
"Alle? Sehr gut. Dann legt auch die zwei restlichen Mappen dazu", forderte Lucia, worauf Madame Rodder ermutigend ihren Fuß gegen den ihrer Tochter drückte.
Meister Rodder musste neuerlich hüsteln, und der Advokat behauptete: "Das sind alle, verehrtes Fräulein."
"Herr Schautze", wurde Lucia nun energisch, "ich kenne alle Unterlagen, wo sind die des Bellwillanwesens und die des Werkes?"
"Die haben mit deim Erbe nix zu tun", fuhr Meister Rodder Lucia in seinem holperigen Dialekt von rechts her an, worauf sie nicht einging, vielmehr behauptete sie mit festem Blick auf Herrn Schautze:
"Was Euch offensichtlich nicht bekannt ist, mein Advokat, der auch der meines Großvaters war, verfügt über eine amtlich beglaubigte Abschrift des Testamentes. Ihr bekämt also massive Schwierigkeiten, wenn Ihr einen Teil der Dokumente zurückbehieltet."
Drohungen verfehlen bei Halunken selten ihre Wirkung. Schautze wurde fahl, blickte achselzuckend zu seinem Klienten und holte dann aus einem Schubfach die beiden von Lucia geforderten Mappen hervor. Darauf verlor Meister Rodder die Beherrschung, er brüllte ihn an: "Wagt Euch! Das Bellwillwerk hat er mir verschrieben, m i r !"
"Meister Rodder, bitte!"
"Nix bitte, der gesamte Bellwillhügel gehört mir! M i i i r ! - Das habt I h r mir gesagt!"
Schautze, noch bleicher geworden, erhob sich, ließ die Unterlagen vor sich auf den Tisch fallen und schlug seinem Klienten vor: "Lasst uns mit Eurem Fräulein Tochter im ruhigen Ton darüber verhandeln."
"Da brauch's kein Verhandeln", schrie Rodder, "habt Ihr selbst mir das net gesagt? Wie? Und wehe Euch, Ihr haltet net Wort!"
Er stürzte Fäuste ballend auf ihn zu, worauf der kleine Alphonse beherzt hochsprang, Rodder zurückhielt und ihm sagte, wenn er sich nicht mäßige, müsse er die Gendarmen rufen. Das brachte Rodder halbwegs zur Besinnung, wodurch es Alphonse und dem Advokaten gelang, ihn beidseitig an den Armen auf die Straße zu befördern, wo er sich beruhigen könne. Wie zur Unterstützung erklang in diesem Moment von der Stiftskirche her das Angelusläuten.
Nun blickten sich Mutter und Tochter zum ersten Mal in die Augen, lächelten sich zaghaft an. Und nach einer Weile ergriff Madame Rodder die Hände ihrer Tochter, wobei sie seufzte: "Lucia, ma Chère, welch ein Empfang nach fast zwei Jahren!"
Darauf streichelte Lucia ihr mit den Daumen die Handrücken und versuchte, sie zu trösten: "Auf derartiges war ich doch gefasst, Frau Mutter. Ihr etwa nicht?"
"Das schon, aber trotzdem schäme ich mich für das Verhalten deines Vaters."
"Nichtdoch, wenn ich nicht so enttäuscht von Vater wäre, müsste ich über ihn und mehr noch über diesen blasierten Schautze nichts als lachen. Sie führen sich auf wie Buben beim Ritter- und Räuberspiel."
Madame Rodder wollte ihr lachend beipflichten, kam jedoch nicht dazu, da von der Straße her zwischen den Glockenklängen wieder Meister Rodders Stimme laut wurde. Ihr Blick zuckte zu den Fenstern, worauf Lucia ihr lieb zuredete: "Dennoch läuten die Glocken, Frau Mutter, das zählt doch ungleich mehr für uns."
"Oui", stimmte Madame Rodder ihrer Tochter aufatmend zu, wobei in ihre Augen ein Goldschimmer geriet. Dann wies sie mit einer verschwörerischen Kopfbewegung zu den beiden entscheidenden Mappen hin: "Wirf einen Blick hinein, vite!"
Darauf beugte sich Lucia über den Tisch, zog die Dokumente näher heran und schlug den Deckel der oberen Mappe auf - ja, die Unterlagen des Herrenhauses. Dann überprüfte sie flugs die Dokumente des Werkes - nichts schien zu fehlen.
"Vorsicht, sie kehren zurück", warnte sie ihre Mutter, worauf Lucia die Mappen wieder zurück schob und sich locker auf ihrem Stuhl zurecht setzte. Gleich drauf betraten Alphonse und der Advokat den Raum - ohne Meister Rodder. Er sei nicht zu bändigen gewesen, berichtete Alphonse verstört, am Schluss sei er auf den Kutschbock der Bellwillkarosse geklettert und davongerast. Darüber schüttelte Madame Rodder den Kopf, wieder schämte sie sich für ihren Gatten, und die beiden Männer wirkten wie Kämpen nach einer verlorenen Schlacht. Keiner brachte ein Wort hervor, das einzige Geräusch im Raum waren die Schritte der beiden Männer, die konfus auf dem langen Holzboden hin- und hertappten.
Diese Situation nutzte Lucia nun vollends. Sie gab ihrer Mutter ein verstecktes Zeichen zu den Dokumenten und dann zur Tür hin.
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