Hexenkunst: Historischer Roman (German Edition)
krallt mich."
'Krallt mich' war derzeit in Tirol das jugendliche Schlagwort für 'gefällt mir'.
"Französische Mode", erklärte Lucia ihm, "wird auch von Männern getragen. Du, ich will dich mit nach drüben nehmen, kommst du mit?"
"Sicher doch", war er sofort bereit, und bevor sie das Gebäude verließen, versprach Lucia den anderen, nach der Mittagspause nochmal bei ihnen hereinzuschauen.
Dann saßen Madame Rodder, Lucia und Justus in einem Gartenpavillon bei erfrischender Limonade und nettem Plausch. Dabei erfuhr Lucia die interessantesten Ereignisse aus dem achtzehntausend Einwohner zählenden Meran, aus dem Werk, von dem Gesinde wie auch aus ihrer großen Verwandtschaft. Sie erfuhr, dass ihr Vater ihren Stellvertreter im Werk, Herrn von Lasbeck, entlassen und den ehemaligen Kontoristen Schmalhover auf dessen Stuhl gehoben hatte, und Justus erzählte von den drei Kindern des hiesigen Stallmeisters, mit denen er hier oben so allerlei erlebte. Umgekehrt berichtete Lucia von ihrer Kunstwerkstatt, wobei sie sich vorsah, Namen oder die Örtlichkeit preiszugeben.
Darüber flog unversehens die Zeit dahin, und selbst, als sie dann am Mittagstisch saßen, erfuhr Lucia Neuigkeit über Neuigkeit, die Madame Rodder mit ihrer flinken deutsch-französischen Sprechweise nur so von den Lippen perlten. Sie war eine erquickende Frau, voller Witz und Esprit, wogegen Justus, trotz seiner Eloquenz und seines oft überschäumenden Temperamentes, fast schwerfällig wirkte. Alle drei strahlten über ihr Beisammensein, obschon sich Lucias Hoffnung, ihr Vater werde endlich heimkehren, nicht erfüllte.
In der Fabrikation wechselte Lucia dann mit mehreren Laboranten und Farbherstellern ein paar persönliche Worte. Zwischendurch blickte sie sich immer wieder in dem hellen Raum um und erinnerte sich, wie oft sie als Lehrling hier die Wände und die vielen Sprossenfenster hatte putzen müssen, besonders im Winter, wenn die vier Steinöfen und die vielen hängenden Öllampen wie um die Wette ihren schwarzen Ruß verbreitet hatten. Zuletzt warf sie einen Blick auf die halbfertigen und fertigen Produkte und freute sich, mit welcher Sorgfalt hier noch immer jeder einzelne Arbeitsvorgang verrichtet wurde. Das war auf Meister Rodder zurückzuführen. Als früherer Leiter der Fabrikation hatte er stets für beste Leistungen gesorgt, und sein hiesiger Nachfolger, Meister Springer, berichtete Lucia jetzt, seit ihr Herr Vater im Kontorhaus ihren Platz eingenommen habe, sei kaum ein Tag vergangen, an dem er nicht hier erschienen sei, um sich von einer einwandfreien Produktion zu überzeugen.
Nach der Fabrikation suchte Lucia die Lagerhalle auf. Auch hier erfreute sie ein herzlicher Empfang, wonach sie mit aufmerksamem Blick die dreimannshohe Halle durchschritt, in der zwischen mehreren Leitern etliche leere Eimer, Kannen und Dosen lagerten sowie Berge von Rohsubstanzen, die großenteils in den Dolomiten abgebaut worden waren. Die zum Verkauf bereiten Farb- und Leimgefäße waren weiter hinten aufgestapelt, nahe der Tür, durch welche die Graphiker die frischgefüllten und von ihnen mit beschrifteten Etiketten versehenen Gefäße hier ablieferten. Lucia irritierte, wie überfüllt das Lager war, alle Wände lagen und standen hoch voll sowohl mit Rohsubstanzen wie auch mit Fertigprodukten. An einigen Stellen bedeckten die Waren gar den unteren Teil der in dieser Halle hoch angebrachten Sprossenfenster, wodurch es leicht düster hier drin war. Mit unguter Ahnung wandte sie sich den Farb- und Leimgefäßen näher zu, nahm das eine und andere in die Hand, schüttelte es, um die Konsistenz des Inhaltes zu prüfen, und das Ergebnis gefiel ihr nicht. Einige Farben und Leih me waren bereits so festgetrocknet, dass man sie nicht mehr verkaufen dießlicürfte, Herr Adam, der Lagerleiter, hätte längst dafür sorgen müssen, dass sie aussortiert werden. Lucia wollte ihn darauf hinweisen - hielt sich jedoch zurück, um diesen sonst so gewissenhaft arbeitenden Mann nicht zu verstimmen und verließ dann kommentarlos die Halle.
Anschließend begrüßte sie die Belegschaft der Etikettierung, dann die der Abfüllerei, danach die Frauen und Männer im Verkaufsgebäude und schließlich den Mechanik Meister und seine Gesellen.
Erst dann begab sie sich in das für ihre Begriffe so borniert dastehende Kontorhaus. Doch unmittelbar nach ihrem Eintreten dann die Überraschung, sie hatte gänzlich vergessen, wie wohlig es hier drin nach Wachs duftete, mit dem die hiesigen
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