Hexenlicht
Gedanken.
Instinktiv lief er die Zimmer ab, die er noch nicht erkundet hatte, öffnete jeden Schrank und jede Kammer, um sich zu überzeugen, dass das Haus wirklich tot war. Er würde nicht eher zufrieden sein, als bis er alles überprüft hatte. Das lag nun einmal in der Natur seiner Art.
Aber Holly hatte gute Arbeit geleistet. Das Erdgeschoss fühlte sich jetzt leer an, wie der Panzer eines längst eingegangenen Käfers. Selbst der Staub, der die Wände in schmierig grauen Streifen bedeckte, wirkte trockener. Alessandro suchte sämtliche Abseiten und Zimmer ab, bis nur noch eine letzte Ecke oben übrig war.
Dort war nicht viel zu sehen. Er ging den Flur hinunter und öffnete Türen. Die Zimmer waren leer, Spiegelbilder von jenen, in denen er bereits gewesen war. Deshalb glaubte er, drinnen fertig zu sein.
Bis er bemerkte, dass vor einer der Zimmertüren ein zarter Schimmer waberte.
Noch ein Blendzauber.
Es war ein recht simpler Zauber, der Dinge vor Neugierigen verbarg, etwa der Polizei oder einem Makler – oder Raglan und seinen Arbeitern. Spuren ähnlicher Zauber hatte Alessandro auch an anderen Stellen gefunden, einschließlich des Zimmers, in dem sie den Schleim entdeckten. Aber der vor dieser Tür war der einzige noch aktive.
Bei Vampiren funktionierte derlei Zauber nicht, zumindest nicht bei so alten wie Alessandro, und wenn doch, dann nicht lange.
Dass der Zauber hier noch existent war, hieß, dass sie es mit mehr als einem böse gewordenen Haus zu tun hatten. Er drehte den Türknauf und brach den Zauber.
Mit viel mehr.
Eine Leiche lag auf dem nackten Holzfußboden. Alessandro stand starr da, die Hand noch auf dem Knauf. Die Gestalt lag auf dem Bauch, den Kopf zu ihm gewandt und die Augen offen, eindeutig tot.
Behutsam trat er in das Zimmer. Der Tod schockierte ihn nicht, aber er war überrascht. Gewöhnlich roch ein Vampir Tote sofort. Entweder hatte der Zauber den Gestank überdeckt, oder er hatte sich mit all den anderen Totengerüchen im Haus vermischt.
Alessandro schaltete das Licht ein. Zwar brauchte er es nicht, doch es fühlte sich ein wenig besser an.
Zentimeter von seinen Füßen entfernt, erzählte ihm der stille, stumme Körper seine Geschichte. Dem Fairview-University-Kapuzenshirt nach zu urteilen, war sie eine Studentin gewesen. Blond. Schlank. Nackte Füße in leuchtend weißen Leinenschuhen mit zartrosa Schnürsenkeln. Wahrscheinlich war sie hübsch gewesen, doch die morbide Teintverfärbung machte das zunichte. Er schätzte sie auf ungefähr neunzehn.
Die Polizei muss es erfahren.
Doch der Anblick bannte ihn derart, dass er sich nicht rühren konnte.
Ihre Knöchel waren mit gelbem Nylonseil gefesselt, und ein Stoffklumpen steckte in ihrem Mund. Die blassrosa Risse in ihrer Haut deuteten auf brutale Misshandlung hin. Letzteres stieß Alessandro besonders ab, weil es so unnötig war. Es bestand ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Jäger und einer Bestie.
Er beugte sich ein wenig vor und schnupperte. Kalt. Sie war mindestens einen Tag tot. Keine Drogen, die er feststellen konnte, nur der saure Geruch von Furcht. In ihren Adern war bloß ein winziger Rest Blut übrig, aber auf dem Boden oder ihren Kleidern war keines zu sehen. Ihr war die Kehle aufgebissen und alles Blut ausgesaugt worden.
Eine Nachrichtenmeldung, die er nebenbei gehört und schon wieder halb vergessen hatte, fiel ihm wieder ein: Morde auf dem Campus. Er hatte es für eine Menschenangelegenheit gehalten, denn von Kehlwunden war nichts erwähnt worden. Vielleicht hatte die Polizei dieses Detail bewusst verschwiegen.
Kein Mensch tat so etwas. Hinter dem Todes- und dem Angstgeruch lag noch der Gestank von etwas
anderem
. Einem magisch begabten Wesen.
Konnte das ein Vampir gewesen sein?
Keiner, den er kannte, wäre zu solch einer Tat fähig, und Alessandro war der Repräsentant der Vampirkönigin in Fairview. Ein Neuankömmling hätte ihm seinen Respekt erweisen müssen, sowie er oder sie in die Stadt kam. In jüngster Zeit waren keine Neuen hergezogen.
Außerdem stimmte die Verletzung nicht. Ein Vampirbiss war scharf und sauber, die Eckzähne oben größer und unten weniger deutlich. Die Wunde bei diesem Mädchen hingegen wies keine klaren Ränder auf und sah eher zerkaut aus, nicht nach einem Biss.
Werwolf?
Nein. Ein Tier hätte sich nicht auf den Hals beschränkt. Sie stürzten sich auf die Eingeweide.
Ein Ghul?
Auch für ihn galt, dass er weit größere Wunden riss. Ein Ghul fraß seine Opfer
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