Hexennacht
hell.
Also wohin im Namen Shalpas, des Schattengottes, hatte es ihn verschlagen?
Er machte ein, zwei Schritte vorwärts; seine Füße fanden selbst ihren Weg über den unebenen Grund. Die Farben der Wolken verursachten ihm Übelkeit - Schwefelgelb, das in ein fahles Rosa überging, einer unverheilten alten Wunde gleich, dann in eine andere, unnennbare Farbe tauchte, die den Augen Schmerzen bereitete, so daß er wegsehen mußte.
Vielleicht bin ich tot , dachte er dann. Gilla, die Ärmste, wird um mich trauern, aber sie hat ja die Kinder, und die größeren verdienen bereits ihren eigenen Unterhalt. Ihr wird es besser ohne mich gehen als mir, hätte sie mich allein gelassen.
Der Gedanke war bitter, und er stellte fest, daß er weinte, als er weiterstolperte. Aber die Tränen waren ohne Substanz und nach einer kurzen Weile schon wieder fort. Er hing weiter seinen Gedanken nach.
Keiner der Priester hat recht, weder diejenigen, die sagen, daß die Seelen der Verstorbenen in ein Paradies wandern, noch jene, die ihnen den Weg in die Hölle prophezeien. Vielleicht aber taugt meine Seele weder für das eine noch das andere, und die Götter haben mich deshalb verdammt, hier zu bleiben!
Sein halbes Leben hatte Lalo davon geträumt, wegzukommen von Freistatt. Jetzt, da er es verloren hatte, überraschte ihn sein Verlangen, es wiederzusehen.
Irgend etwas eilte tribbelnd an ihm vorbei, so daß er hastig zur Seite sprang. Gab es hier Ratten? Und nun konnte er das Steinpflaster zu seinen Füßen erkennen. Zitternd sah Lalo zu, wie sich Formen aus dem Nebel lösten - Wände mit Torbögen vielleicht und Dächer, die sich zum gespenstisch fahlen Himmel erhoben. Dort - das war doch die breite Front von Jubals Anwesen, aber das konnte nicht sein: die Stiefsöhne hatten es niedergebrannt! Und dann wußte er, daß etwas nicht stimmte, denn daneben erblickte er das vertraute schiefe Zeichen des Wilden Einhorns, aber die Augen des Einhorns glänzten böse, und Blut tropfte von dem gedrehten Horn.
Unvermittelt wurde ihm bewußt, daß er Geräusche hörte: das Lachen Betrunkener, das erscholl, wenn sie zusahen, wie ein Grobian einem Jungen das Gesicht zerschlug, oder wenn sie, einer nach dem anderen, eine Frau schändeten; die Schreie, die er vernommen hatte, wenn er an Kurds Werkstatt vorbeigeeilt war, und das erstickte Röcheln derer, die am Vashanka-Platz ihr Leben am Galgen aushauchten.
All diese Geräusche kannte er aus Freistatt, und er konnte sich vor ihnen verschließen, aber dem Schluchzen, das von irgendwo vor ihm erklang, vermochte er sich nicht zu entziehen; es war das stille, hilflose Wimmern eines mißhandelten Kindes.
Ich habe mich geirrt , dachte er, ich bin doch in der Hölle!
Lalo begann zu laufen und fand sich unvermittelt von Gestalten umgeben. Falkenmasken und Stiefsöhne prügelten aufeinander ein, abgehauene Gliedmaßen fielen wie geschnittener Weizen, und Bluttropfen schlugen auf das Steinpflaster wie schwerer Regen. Ein Mann stolperte an ihm vorbei, und Lalo meinte, es sei Zanderei, dann wandte sich die Gestalt ihm zu, und Lalo fuhr zurück, denn sein Gegenüber besaß überhaupt kein Gesicht.
Ein anderer kam ihm entgegen - Sjekso Kinsan, mit dem er so manches Mal im Wilden Einhorn einen Becher geleert hatte, und hinter ihm sah er eine Frau mit langem, bernsteinfarbenem Haar, Lord Reglis Frau, Samlane, die Lalo vor langer Zeit gemalt hatte, ehe er Enas Yorls Gabe besaß und ehe die Frau gestorben war. Er meinte auch noch andere zu erkennen, Diebe, deren verzerrte Gesichter er an den Galgen gesehen hatte, Höllenhunde und Söldner, die durch die Straßen Freistatts gezogen waren, um dann nirgendwo mehr aufzutauchen.
Sie sahen ihn an und kamen näher. Lalo begann zu laufen, sich durch das Labyrinth zu graben wie eine Made in einem verwesenden Körper auf der Suche nach einer ungewissen Sicherheit.
»Frau, Ihr habt Glück, daß ich überhaupt mit Euch hierherkam!« sagte Alten Stulwig steif. »Meine Patienten kommen zu mir, und es gehört gewiß nicht zu meinen Gepflogenheiten, diesen Teil der Stadt aufzusuchen!«
»Ihr wißt sicherlich, daß mein Mann einflußreiche Freunde hat, die es Euch verübelten, wenn Ihr ihrem Lieblingskünstler nicht zur Hilfe kämt!« konterte Gilla boshaft. »Und nun hört auf, meinem Blick auszuweichen wie eine Hure, die ihrem ersten Kunden nicht in die Augen sehen kann, und sagt mir, was mit ihm los ist!« Sie hob einen Arm, der gewiß so kräftig war wie Stulwigs
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