Hexennacht
Tempel. »Ich nehme ihn mit«, sagte sie. »Es ist zur Zeit ruhig in den Straßen, und er braucht Bewegung.«
Lalo nickte, während er sich aufrichtete. Gilla streichelte seine Wange; er verstand, was sie ihm zeigen wollte, aber so selten in Worte kleiden konnte, und lächelte sie an.
»Laß dich nicht von den Fischaugen auffressen!« riet er ihr.
Gilla schnaubte. »Am hellichten Tag? Das möchte ich sehen! Außerdem sagt unsere Vanda, daß sie trotz ihres seltsamen Äußeren Leute wie wir sind, und da sie der Lady Kurrekai dient muß sie es ja wissen. Schenkst du vielleicht den Basargeschichten mehr Glauben als deiner eigenen Tochter?« Sie hob den Kleinen auf die breite Hüfte, packte den Einkaufskorb und ging.
Das Haus bebte unter Gillas schweren Schritten, als sie die Treppe hinunterstieg. Lalo ging ans Fenster, um sie unten auf der Straße zu sehen. Das gleißende Sonnenlicht vergoldete ihr blasser werdendes Haar, bis es so strahlend leuchtete wie das des Kindes.
Dann sah er sie nicht mehr und war wieder allein mit dem Spiegel und mit seiner Angst.
Ein Mann namens Zanderei hatte ihn einst gefragt, ob er je ein Selbstporträt gemalt hatte, ob es ihm gelungen sei, mit der Gabe Enas Yorls, nämlich das wahre Selbst eines Menschen zu malen, ein Porträt seiner eigenen Seele zu erstellen. Lalo hatte Zanderei dafür das Leben geschenkt, und zunächst war er so glücklich darüber, selbst am Leben zu sein, daß er an Zandereis Worte keinen Gedanken verschwendete. Dann war die Beysiberflotte aufgetaucht mit ihren geschnitzten Bugen und den vergoldeten Mastspitzen, auf denen die Sonne Flammen zauberte, und niemand besaß mehr die Muße, sich über andere Dinge Gedanken zu machen. Nun jedoch war alles wieder ruhig. Lalo hatte keinen Auftrag, und seine Augen klebten geradezu am Spiegel an der Wand.
Lalo hörte einen Hund auf der Straße bellen, und im Hof stritten sich zwei Frauen; entfernt klang das Treiben des Basars in der Luft, hier im Zimmer aber war es sehr ruhig. Staffelei und Leinwand standen bereit. Er wollte an diesem Morgen ein Bild entwerfen, das eine Szene der Heirat zwischen Ils und Shipri darstellte. Aber jetzt war keiner sonst im Haus - niemand, der zur Tür hereinschauen und ihn fragen konnte, was er dachte, was er tat -, niemand, der ihm zusah.
Einem Schlafwandler gleich nahm Lalo die Staffelei und stellte sie neben den Spiegel, dann setzte er sich so, daß ihm das Licht durch das Fenster direkt aufs Gesicht fiel.
Endlich, einem Liebenden gleich, der sich zum ersten Mal ganz in den Körper seiner Geliebten verlor, oder wie ein unterlegener Schwertkämpfer, der die Deckung fallen ließ, bereit für den letzten Hieb des Gegners, begann Lalo zu malen, was er sah.
Gilla wuchtete den Korb mit ihren Einkäufen auf den Tisch; sie brachte den Mehlsack vor Alfis neugierigen Fingern in Sicherheit und leerte den Inhalt in die Mehlschütte, dann fand sie einen hölzernen Löffel für Alfi, setzte den Kleinen auf den Boden, wo er mit dem Spielzeug vergnügt und heftig lärmte. Vom Treppensteigen ein wenig außer Atem, gönnte sich Gilla einen Augenblick Ruhe, bis sie ihre anderen Einkäufe verstaute.
Das dauerte nicht lange. Es gab weniger zu kaufen, seit die Beysiber angekommen waren; ihr Reichtum war der Grund für die hohen Preise. Gilla hatte zwar einiges an Silber gespart, aber keiner wußte, wann Lalo wieder mit Aufträgen rechnen konnte. Also aß die Familie wieder Reis und Bohnen und gelegentlich ein wenig Fisch im Eintopf. Jetzt, da viele neue Schiffe zur Flotte hinzugekommen waren, gab es zumindest keinen Mangel an Fisch.
Gilla seufzte. Sie hatte ihren Wohlstand genossen - es bereitete ihr Vergnügen, Fleisch auf den Tisch zu bringen und mit den Gewürzen zu experimentieren, die aus dem Norden kamen. Aber sie hatten auch lange Jahre ein kärgliches Dasein gefristet, und sie verstand sich wohl darauf, ihre Familie mit wenig Brot, aber vielen guten Worten zu ernähren. Sie würden die Beysiber überleben, wie sie auch alles andere überlebt hatten.
Alfi stapfte auf seinen kurzen Beinchen entschlossen auf die Tür zu, hinter der Lalos Arbeitszimmer lag. Gilla hob ihn hoch und küßte ihren zappelnden Sohn auf eine der Pausbacken.
»Nein, mein Süßer. Papa arbeitet dort, und wir dürfen ihn nicht stören.«
Es schien ihr jedoch seltsam, daß Lalo ihnen nicht einmal einen Gruß zugerufen hatte, als sie hereingekommen waren. Wenn er an einem Porträt arbeitete, konnte Vashanka das Haus um ihn zu
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