Hexennacht
dem
Seitenfenster in die Schwärze. Kein Mond war mehr zu sehen.
»Ja, ich habe die Kreidezeichen auch gesehen. Jürgen
meinte, es seien Kinderzeichnungen.«
»War sonst noch jemand in dem Haus, als Sie es betreten
haben?«, fragte Arved.
»Natürlich nicht«, erwiderte die junge Frau.
»Es ist ja nur ein einziger Raum und es konnte sich dort niemand
verstecken. Aber…«
»Aber?«
»Aber da war ein so komischer Geruch. Fast wie nach
Weihrauch. Er schien schnell zu verfliegen. Ich habe Jürgen
darauf aufmerksam gemacht, aber er hat ihn nicht gerochen. Er war so
komisch. So bösartig. Und als ich ihm gesagt habe, dass ich die
Trauben seltsam finde, hat er welche gegessen. Ich wollte ihn davon
abhalten, aber er hat mich einfach von sich gestoßen. So kenne
ich ihn gar nicht.« Sie weinte. Heftiges Schluchzen
durchzitterte ihren zarten Körper. »Er wollte mir auch ein
paar Trauben geben. Ich habe mich geweigert. Da hat er versucht, sie
mir gegen meinen Willen in den Mund zu stopfen. Ich habe ihm vor
lauter Angst in den Finger gebissen. Dann hat er sich in die
hinterste Ecke zurückgezogen. Da wurde er zwar völlig nass,
aber das schien ihm egal zu sein.« Sie seufzte und schien sich
wieder im Griff zu haben.
Minderlittgen. Die Scheinwerferkegel legten Mauerwerk und blasse,
entfärbte Nachthecken frei. Und eine Gestalt, die an einem Baum
hing. Es konnte nur eine Strohpuppe sein. Zumindest hoffte Arved das.
Was war das bloß für eine Nacht? Was war das für ein
Albtraum? Hoffentlich hatte Wittlich ein Krankenhaus; hoffentlich war
diese Nacht für ihn bald vorüber.
Ein großer Vogel flatterte in den Lichtkreis des Bentley.
Arved bremste hart ab. Der Mann auf der Rückbank stöhnte
auf. Seine Frau drehte sich um und streckte die Hand nach ihm aus.
Unter ihrer Berührung wurde er wieder ruhiger.
Der Vogel schien in der Luft zu schweben. Seine Augen glühten
im Scheinwerferlicht. Es war eine Eule. Die größte, die
Arved je gesehen hatte. Als er schon glaubte, den Wagen nicht mehr
rechtzeitig zum Stehen zu bringen und einem Zusammenprall nicht mehr
ausweichen zu können, war der Vogel plötzlich verschwunden.
Erst jetzt bemerkte Arved, dass er die Luft angehalten hatte.
Erleichtert stieß er sie aus.
»Was für eine Nacht«, stöhnte die Frau.
Arved nickte und gab wieder Gas.
»Und dann ist er plötzlich über mich
hergefallen«, fuhr sie fort, als sie den Ort hinter sich
gelassen hatten. »Ich weiß nicht, zu was es noch gekommen
wäre. Er war plötzlich so brutal. So kenne ich ihn gar
nicht. Er hat mich geküsst und regelrecht abgegrapscht. Und beim
Küssen habe ich die Trauben geschmeckt.« Sie
schüttelte sich.
Die Straße wand sich in ein enges Tal und von dort aus auf
einer glücklicherweise breiteren Straße nach Wittlich
hinein. Arved gab auf der schnurgeraden Bahn Gas und war erstaunt,
wie schnell der Wagen beschleunigte.
»Es war ekelhaft«, berichtete die junge Frau weiter.
»Das waren keine normalen Weintrauben. Ich weiß nicht,
wonach es geschmeckt hat, aber es war abscheulich. Zugleich
süß und erdig – vielleicht so, als würde man
Schlamm mit Zucker darauf essen. Ich habe das wenige, das er mir
durch den Kuss eingeträufelt hat, sofort ausgespuckt,
aber…«
»Aber Sie glauben, auch etwas davon abbekommen zu
haben«, vollendete Arved den Satz für sie.
Sie nickte. »Ich habe ihm dafür die Hölle an den
Hals gewünscht.«
Arveds Kleidung war inzwischen beinahe getrocknet. So musste man
sich fühlen, wenn man im Anzug in die Sauna ging. Er sah die
wenigen Lichter des nächtlichen Wittlich vor sich. Weit links,
über der Stadt, erhob sich ein großer Gebäudekomplex,
in dem es hell aus vielen Fenstern schien. Er hoffte, dass dies das
Krankenhaus war. »Es wäre wohl besser, wenn Sie sich
ebenfalls einweisen lassen«, sagte er leise.
»Ja. Außerdem würde ich meinen Mann niemals allein
lassen.«
Es dauerte eine Weile, bis das erste Hinweisschild auf das
Krankenhaus erschien. Arved fuhr schneller als erlaubt durch die wie
ausgestorben wirkenden Straßen. Einmal sah er etwas über
die Fahrbahn huschen, das ganz sicher weder eine Katze noch ein Hund
gewesen war. Zu klein für ein Kind, zu groß für ein
Tier…
Nun ging es bergan, vorbei an einem gespensterhaft erleuchteten
Busbahnhof, dann in einer scharfen Rechtskurve weiter hinaus, zu
einem Kreisel, immer den Piktogrammen nach, und endlich, hinter einer
Biegung am Berg hinter dem Ort, als Arved schon befürchtet
hatte, irgendwo die falsche
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