Hexenschuss: Tannenbergs dreizehnter Fall (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
starken Arme eines brutalen Mannes, der breit grinsend nur wenige Meter hinter ihr stand und sich lüstern über die Lippen leckte. Nein, lieber wollte sie sterben, als sich von diesem rauen Gesellen die Unschuld rauben zu lassen.
Ihr Verfolger wähnte sich seiner Beute sicher. Genüsslich setzte er einen Fuß vor den anderen, weidete sich an der Todesangst seines ihm schutzlos ausgelieferten Opfers. Doch anstatt sich dem unausweichlichen Schicksal willenlos zu ergeben, auf die Knie zu fallen und um Schonung zu winseln, ging ein Ruck durch den Körper des Mädchens. Es richtete sich zu voller Größe auf und feuerte einen hasserfüllten, trotzigen Blick auf seinen Häscher ab. Verdutzt ob dieser unerwarteten Dreistigkeit blieb der grobschlächtige Mann stehen. Eh er sich versah, schloss die Jungfrau die Augen, legte die rechte Hand auf ihr Herz und schickte ein Stoßgebet in den wolkenlosen Himmel. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt, ging zur vorspringenden Ecke des Felsens und stürzte sich in den Abgrund.
Fluchend zog der Wüstling von dannen. Die junge Maid hatte ihr Schicksal in die Hände des Herrn gelegt. Ihr Gottvertrauen wurde belohnt, denn sie stürzte nicht wie ein Stein auf die Erde, sondern setzte sanft mit den Füßen auf einer Sandsteinplatte auf und konnte unbeschadet heim zu ihren Eltern wandern.
Dort, wo sie auf dem Sandstein landete, tat sich noch im selben Augenblick der Felsen auf und eine Quelle sprudelte hervor. Seit diesen fernen Schicksalstagen nennt man diesen hohen Felsen Jungfernsprung.‹«
Rolla, die die ganze Zeit über zugehört hatte, seufzte tief ergriffen. »Ach, was für eine herzergreifende Geschichte.«
»Wie schön wäre es, wenn es auch heute noch solche Wunder gäbe, die uns arme Frauen beschützen würden«, bemerkte Vicki.
»Ja, das stimmt«, meinte Rolla.
»Und was ist die Moral von der Geschicht?«, fragte Vicki ihre Begleiterinnen, die jedoch nicht sofort antworteten. Also schob sie geschwind die Auflösung nach: »Schon damals wussten unsere armen Schwestern: Alle Männer sind potenzielle Vergewaltiger.«
»Tja, das kann man durchaus behaupten«, pflichtete ihr Lotte bei. Sie zog zwei prall gefüllte Klarsichthüllen aus ihrem Rucksack. »Ich war heute am Bahnhof und habe alle möglichen überregionalen Zeitungen gekauft und durchforstet. Die Artikel, die uns und unser Projekt betreffen, habe ich für euch kopiert.«
»Das ist ja eine ganze Menge«, stellte Rolla beeindruckt fest und blätterte die Kopien durch. »Wir sind inzwischen sogar bundesweit bekannt wie ein bunter Hund.«
»Bunte Hündin«, korrigierte Vicki grinsend.
»Darauf können wir unheimlich stolz sein«, sagte Lotte. »Mit unserem Rachefeldzug haben wir das Geschichtsbuch des Feminismus um ein wesentliches Kapitel erweitert. Wir haben Schluss gemacht mit diesem unsinnigen und ungleichen Gefecht mit Worten. Unser Rachefeldzug ist ein Kampf mit tödlichen Waffen. Damit sorgen wir für eine Gerechtigkeit, die ohne unsere militanten Aktionen niemals möglich gewesen wäre. Wir haben den Männern das Heft des Handelns aus den Händen gerissen und unumstößliche Fakten geschaffen.«
»Stimmt. Wenn einer tot ist, ist er eben tot«, stellte Vicki lapidar fest.
Lotte richtete ihre Stirnlampe auf ihr linkes Handgelenk, wo eine goldene Uhr prangte. »Gleich Mitternacht. Der richtige Zeitpunkt für die Erneuerung unseres feierlichen Schwurs. Seid ihr bereit?«
Zustimmendes Nicken.
Lotte schritt zum Maschendrahtzaun. Ihre Freundinnen folgten ihr wie bei einer feierlichen Prozession. Selbst Rolla schien ihre Angst vor dem Abgrund verloren zu haben, vermied aber den Blick nach unten und sah starr über die Lichter der Stadt.
»Kommt, Schwestern, reicht mir eure Hände«, forderte Lotte.
Geduldig wartete sie, bis die beiden Frauen links und rechts neben ihr standen und ihr die Hände reichten. Anschließend sprach sie eine ähnliche Beschwörungsformel wie vor ein paar Tagen am Lagerfeuer:
»Die Zeit ist reif für eine Wende.
Lasst uns an Walpurgisnacht vereinen,
Damit die Geister uns erscheinen.«
»Oh, ihr finstren Mächte, schenkt uns Kraft,
Die Vergeltung bringt und Leiden schafft.
Entflammt in uns die schwelend Glut,
Zu vernichten diese Teufelsbrut.«
15
Völlig übermüdet trafen Tannenberg und Sabrina Schauß am frühen Sonntagmorgen in ihrer Dienststelle am Pfaffplatz ein. Sie waren mitten in der Nacht zu einem neuen Tatort gerufen worden und hatten deshalb kein Auge
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