Hexenspiel. Psychokrimi: Ein Psychokrimi (German Edition)
Christina erinnert. Sie hatten gegessen und geredet und gegessen und geredet, als könnten sie darin endlich eine Erklärung dafür finden, was gerade mit ihnen geschah. Und da waren so viele „Kannst-du-dich-erinnern“ gewesen, so viele „weißt-du-noch-wie“.
Wie sie sich kennen gelernt hatten, als Christina in der Polizeiinspektion den Diebstahl ihres Fahrrades angezeigt hatte. Wie verzweifelt sie gewesen war, als ihr Wagner erklärt hatte, dass es so gut wie keine Chance gäbe, das Rad wieder zu finden. Und wie glücklich, als Wagner zwei Tage später in den Lindenwirt gekommen war, um ihr mitzuteilen, dass sie ihr Fahrrad bei ihm in der Dienststelle abholen könne. Wie sie nicht anders gekonnt hatte, als ihn dafür zu umarmen und wie verlegen er danach dagestanden war. Wie er sie noch am selben Abend angerufen hatte, um sie zu fragen, ob er sie irgendwann auf einen Kaffee einladen dürfe, und wie sie am Abend darauf in der Konditorei gesessen waren und er ihr die ganze Zeit nur Vorträge über die massenhaften Fahrraddiebstähle durch organisierte rumänische Banden und über die Vorzüge von Stahlbügelschlössern gehalten hatte.Und wie sicher und geborgen sie sich auf einmal bei ihm gefühlt hatte, und wie neu dieses Gefühl für sie gewesen war, und wie sie dann noch in derselben Nacht in Wagners Wohnung miteinander ins Bett gegangen waren.
Und wie sie die alten Elvis-Schallplatten in Wagners Wohnung entdeckt hatte und Wagner ihr daraufhin wochenlang immer wieder irgendwelche Geschichten über Walter, seinen älteren Bruder, erzählt hatte, dem die Platten eigentlich gehören würden und der sie ihm nur geliehen und dann bei ihm vergessen hätte und der schon vor Jahren nach Australien ausgewandert sei, ständig neue, abenteuerliche Geschichten über seinen tollen, großen Bruder Walter, bloß weil Wagner Angst gehabt hatte, Christine könnte vom Alter der Platten auf sein Alter schließen und ihn deshalb verlassen. Und wie eines schönen Tages aus dem Walter plötzlich ein Günther geworden und deshalb die ganze Geschichte aufgeflogen war, und wie sie darüber gelacht hatten und Wagner Christina dann noch die ganze Nacht lang bewiesen hatte, dass er tatsächlich viel jünger war, als in seinem Pass stand.
Und wie sie das Spiel „Bei dir oder bei mir?“ genossen hatten und Christina deshalb erst nach eineinhalb Jahren in Wagners Wohnung eingezogen war. Und wie stinksauer Wagner gewesen war, als er und Christina einmal, ein einziges Mal, Christinas Eltern besucht hatten, und ihr Vater nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als Wagner ständig mit der Frage auf die Nerven zu gehen, ob er ihm nicht dabei helfen könne, eine Strafverfügung der Verkehrspolizei nicht bezahlen zu müssen. Und wie sie sich ausgerechnet im Urlaub auf einer griechischen Insel im Freilichtkino
Sound of
Music
angesehen hatten, einmal und nie wieder. Und wie sie in dieser winzigen Pizzeria in Lignano gewettet hatten, wer mehr
Quattro Stagione
in einer Stunde verdrücken könnte, und Wagner hatte gewonnen, nein, Christina, nein, Wagner. Und und und – als wäre ihre ganze gemeinsame Zeit nichts als eine Aufeinanderfolgeherrlicher Lachnummern gewesen. Nur darüber, wie alles zu Ende gegangen war, hatten sie nicht geredet.
Christina schnappte sich mit den Fingern die letzten Krümel vom Tortenteller und steckte sie in ihren Mund. Dann sah sie Wagner lächelnd an und sagte: „Na bitte, Klaus, diesmal hast du gewonnen.“
Wagner lächelte zurück, doch dann konnte er nur mit Müh und Not ein Rülpsen unterdrücken.
„Entschuldige, aber ich brauch jetzt unbedingt frische Luft. Ganz dringend.“
Er stemmte sich aus der Couch hoch, öffnete die Tür und trat hinaus auf die Loggia.
Der Autoverkehr war kaum weniger geworden, und aus einem Lokal auf der gegenüber liegenden Straßenseite drangen die monotonen Bassrhythmen einer Discoanlage. Die warme Nachluft roch nach Auspuffgasen und wirkte auf Wagner nur kurze Zeit erfrischender als die Luft in der verqualmten Wohnung. Anscheinend hatten sie auch um die Wette geraucht, doch wer dabei gewonnen hatte, blieb offen. Wagner streckte seinen Rücken durch, nahm ein paar tiefe Atemzüge und bekam einen Hustenanfall.
„Was ist denn mit dir los? Das klingt ja furchtbar!“
Christina war hinter Wagner getreten und umschlang seinen Brustkorb mit ihren Armen.
„Ach, nichts. Scheißzigaretten. Geht schon wieder.“
Christina drückte sich fester an Wagner und legte ihren Kopf auf seinen
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