Hexenstein
zu verstehen, dass der Grund des nächtlichen Ausfluges nicht der Befriedigung eines Bewegungsdranges diente, oder einer skurrilen Freude an nächtlichen Wanderungen – alles an dieser Gestalt vermittelte einen Ausdruck von aggressivem Leid.
Er musste den Weg kennen, denn kein einziges Mal kam es zu einem Zögern, einem Innehalten, um Orientierung zu finden. Er hatte dem See den Rücken zugewandt, nahm keinen Blick zurück, hatte keine Augen für das nächtliche Schauspiel, das sich vollzog, wenn der Wind, einem unsichtbaren Kulissenschieber gleich, eine Wolkenlücke vor dem Mond sich öffnen ließ, dass dessen silberner Glanz aus der schwarzen, wie tot erscheinenden Fläche ein nächtliches Stück Wasser schlagen konnte. In diesen Augenblicken flirrte das stumme nächtliche Wasser, es vibrierte, tänzelte, warf Schatten und Licht ineinander, war irritierend schön, leuchtend, anziehend – ein kalter nächtlicher Sonnenaufgang. Und doch stand hinter dem fesselnden Schauspiel die Ahnung, es mit einer betrügerischen, verbotenen Lockung zu tun zu haben, einem uneinlösbaren Versprechen der Nacht, die doch niemals Tag sein konnte.
Hätte die Gestalt in jenem Moment zurückgeblickt, wäre ihr die düstere Verheißung des bedrohlich glänzenden Schlundes, den Mond und See zeichneten, deutlich geworden.
Seit geraumer Zeit ging Laurenz Brender den Weg von Hoyren aus in jeder Nacht. Eigentlich hatte er angesichts der Situation, der er sich ausgeliefert fühlte, andere Reaktionen seiner Seele, seines Körpers erwartet, als jene, die er erlebte. Er hatte etwas Spektakuläres erwartet. Nicht dieses banale Plagen, das ihn seit Wochen quälte.
Es hatte in verblüffender Schlichtheit begonnen. Eines Nachts war er aufgewacht. Ein Geräusch. Es war ein Geräusch, das seinen Schlaf beendete. Er hatte auf die Uhr gesehen – drei Uhr – und gelauscht. Er hatte in die Ferne gelauscht, in das Dunkel des Raumes und über dessen Grenzen hinaus. So hatte er erwartungsvoll gelegen, noch halb im wohligen Taumel des Erwachens. Dieses Geräusch, ein dumpfes Brummen, war nicht von draußen gekommen. Es saß in seinem Ohr. Beständig. Fremd, dunkel surrend, ab und an knarrend, wie aus einer anderen Welt und es war doch sein Eigen.
Von jener Nacht an war es immer für ihn da. Es nahm ihm die Stille, den Schlaf, die Kraft, die aus einem tiefen Schlaf entsprang, und es war pünktlich. Drei Uhr. Jede Nacht. Er konnte diesem Schaudern seiner Seele nicht entfliehen, nahm es mit, wohin er auch fuhr, ging oder flog. Selbst mit einem Jetlag kam jenes Geräusch besser zurecht, besser als sein Körper. Irgendwann, als er von Schlafmitteln und esoterischem Zauber genug hatte, entwickelte er einen eigenen Plan. Er stellte seinen Wecker auf zwei Uhr dreißig, stand auf und ging mit seinem Geräusch auf Wanderschaft, zeigte ihm die Schönheiten der Nacht und entdeckte in deren Schutz sein eigenes Dunkel. Es war, als wollte ihn das Brummen in seinem Ohr dazu zwingen.
Zunächst aber war es eine Enttäuschung über das Ausbleiben des großen Zusammenbruchs, der ihm doch zugestanden hätte, genau wie der große Erfolg. Das Ausbleiben des Spektakels enttäuschte ihn. Hatte er nicht mehr verdient? Strafe, eine große Strafe? Spektakuläres – das war es, worauf er sein Leben ausgerichtet hatte.
Lindau war ihm und seinen großen Ideen immer zu klein erschienen. Erst war er in München gewesen, dann in London, schließlich in Hongkong, New York und zuletzt in Schanghai. Orte, an denen das Leben schneller war und länger erschien – nun gut, München? Er schloss kurz die Augen, machte einen Schritt ins Unbekannte. Intensiver war das Leben an diesen Orten, sagten und schrieben andere, solange jedenfalls, wie der Treibstoff der Intensität – das Geld – ausreichte, der zügellosen Geschwindigkeit die erforderliche Energie zu liefern. Als er alles verloren hatte, als alles unwiederbringlich verloren war, ahnte er, dass sein Tun nicht der kreativen Kraft seiner Gedanken entsprungen, sondern lediglich eine Kopie anderer Leben war. Er brachte nichts Eigenes zuwege und sein Geist war viel zu klein, um in der Welt schneller Intensität bestehen zu können.
Diese ihm so klein erscheinende Welt am Bodensee hatte ihm viel mitgegeben – und nun war alles verloren. Alles.
Anika hatte ihn schon vor einem Jahr verlassen, gleich als die Kreditkarte nicht mehr die Versprechungen ihres Namens und ihrer Farbe hielt. Danach hatte er sich von den Autos getrennt, dann von
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