Hexentochter
hoch, und sie dachte: Ich ertrinke doch im Meer - das ist eine Illusion!
Aber der Moment der Panik verging, als sie aus der Mauer hervortrat. Sie drehte sich um und starrte voller Staunen von der anderen Seite auf die steinerne Wand.
Noch immer rief etwas nach ihr, zog sie zu sich hin...
Sie ging durch eine Wand nach der anderen. Die letzte erwies sich als wahre Herausforderung, denn sie widersetzte sich zuerst dem Druck ihrer Hand, gab aber schließlich Hollys Beharrlichkeit nach. Sie fand sich in einem prächtigen Gemach wieder, herrlich hell und warm dank des Feuers in einem großen Kamin. Als sie endlich ganz hervortrat, bemerkte sie, dass sie nicht allein im Raum war.
Vor dem Feuer saß ein Mann, den Kopf auf die Fäuste gestützt. Sie trat langsam hinter ihn, ohne sich mit dem leisesten Geräusch zu verraten. Wer ist er? Warum sitzt er hier mit gramgebeugten Schultern?
Er musste etwas gespürt haben, denn er blickte hastig auf, und seine Hände fielen mit einem Klirren herab.
Da begriff sie: Er trug schwere Fesseln an Hand- und Fußgelenken. Holly streckte die Hand nach der eisernen Schelle an seinem linken Handgelenk aus, doch ihre Finger wurden schmerzhaft zurückgewiesen. Der Mann war ein Gefangener, körperlich wie magisch gefesselt.
Für welches Verbrechen er wohl bestraft wird?
»Leben«, antwortete er.
Sie sprang erschrocken zurück. Sie hatte nicht laut gesprochen - wie hatte er sie hören können?
»Ich kann dich spüren, auch wenn ich dich nicht sehen kann.« Seine Stimme klang heiser, aber erschreckend vertraut. »Du bist es doch, Holly, nicht wahr?«
Er wandte ihr das Gesicht zu, und einen kurzen Moment lang glaubte sie, er sehe sie doch. Sie wich zurück, aber sein Blick glitt über sie hinweg und durch den leeren Raum um sie herum.
Und jetzt konnte sie sein Gesicht ganz deutlich erkennen, oder vielmehr das, was davon übrig war.
»Jer!«, keuchte sie.
»Da bin ich mir nicht mehr so sicher«, entgegnete er grimmig. Er richtete den Blick dorthin, wo er sie gehört hatte, und starrte unheimlicherweise ihr linkes Ohrläppchen an.
Er hob die linke Hand, und im flackernden Feuerschein konnte Holly sehen, dass sie entsetzlich vernarbt war.
»Ein Souvenir. Eine Erinnerung daran, wie nah ich dem Tode war und wie viel ich verloren habe, indem ich überlebte.«
Sie verstand seine Worte nicht, prägte sie sich aber trotzdem ein. Später würde sie Zeit haben, ihre Bedeutung zu enträtseln.
»Wo sind wir?«, fragte sie.
Er zuckte mit den Schultern. »Auf der Insel Avalon.«
Sie schnappte nach Luft. »Dann muss das hier...«
»Ja. In diesen Mauern liegt starke Magie. Dieses Land gehört dem Obersten Zirkel, schon seit dem Tod des schwarzen Hexers Merlin. Er hat seine Zauber innerhalb dieser Mauern gewirkt.«
»Merlin? Oberster Zirkel? Aber wo liegt es? Wo ist Avalon?«, fragte sie in wachsender Verzweiflung. Etwas zog an ihr, sie entglitt diesem Ort.
Er streckte beide Hände nach ihr aus. mit gespannter Haut und zitternd vor Anstrengung, weil sie so schwer und voller Magie waren.
»Holly«, sagte er heiser, »komm nicht hierher. Ich konnte nicht anders, ich konnte mich nicht davon abhalten, meine Seele nach dir auszusenden. Du bist meine andere Hälfte, und ich die deine. Aber komm nicht hierher. Lebe ohne mich weiter, für immer, wenn es sein muss. Obwohl du nie vollständig sein wirst.«
Er sah sie voller Sehnsucht an, voller Liebe und Verzweiflung. »Such nicht nach mir«, sagte er.
»Ich ...« Ehe sie ihm widersprechen konnte - Nein, das kann ich dir nicht versprechen! Ich werde dich finden!, wurde sie davongerissen. Sie segelte rücklings durch all die Mauern, immer schneller. Ein Sog zerrte an ihr, der Schmerz nahm zu, ihre Lunge tat entsetzlich weh, und ihr Herz noch mehr.
Sie krachte gegen die letzte Mauer, die einen Moment lang unter ihrem Gewicht stöhnte, ehe auch sie nachgab.
Schmerz durchzuckte ihren rechten Knöchel.
Dann war sie wieder am Strand und rannte im Stockdunkeln so schnell sie konnte auf das Wasser zu. Unsichtbare Hände drängten sie zur Eile, und als sie das Meer erreichte, stießen sie Holly hinein.
Der Sog der Wellen erfasste sie und zog sie so weit aufs Meer hinaus, dass sie den Strand nicht mehr sehen konnte.
Oh Gott, nein. Ich war schon in Sicherheit. Tut mir das nicht an. Zieht mich nicht dort hinaus. Ich hatte es doch schon geschafft!
Zornig und verängstigt wehrte sie sich gegen die Wellen und bemühte sich, das unsichtbare Land wieder zu
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