Hexer-Edition 08: Engel des Bösen
leben.
So vorsichtig, wie ich nur konnte, griff ich nach ihrem Geist, blockierte den Teil davon, der für den Schmerz zuständig war, und versuchte gleichzeitig, ihr Kraft zu geben.
Lady Audley schloss mit einem erleichterten Seufzer die Augen. »Danke, Robert«, flüsterte sie. »Ich … dachte, ich würde es nicht mehr aushalten.«
»Es wird nicht lange wirken«, sagte ich besorgt. »Der Schmerz wird wiederkommen, Mylady. Aber Sie müssen ihn ertragen. Sie werden leben.«
Lady Audley schluckte schwer. »Wo ist … Shadow?«, fragte sie. »Sie ist doch mitgekommen, oder?«
Ich erschrak, als ich begriff, dass sie wusste, was geschehen war. Ich hatte ihre Anwesenheit gespürt, als ich zusammen mit Shadow durch diese schreckliche Leere geglitten war, aber ich hatte nicht geglaubt, dass sie Zeuge unseres Gespräches geworden wäre.
»Ich werde nach ihr suchen«, versprach ich. »Aber zuerst muss ich Hilfe herbeiholen. Sie brauchen einen Arzt.«
Lady Audley schüttelte den Kopf und hielt meine Hand noch fester. »Suchen Sie … Shadow, Robert«, flehte sie. »Bitte. Es ist … wichtig. Ich spüre es.«
Einen Moment lang sah ich sie ernst an, dann nickte ich, löste behutsam ihre Finger aus den meinen und drehte mich herum. Ein sonderbares, eigentlich vollkommen unbegründetes Gefühl der Bedrückung machte sich in mir breit, als mein Blick über den dunklen, leeren Friedhof glitt. Irgendetwas Böses schien in den Schatten zu lauern. Ich wusste nur nicht, was.
Ein dunkler Umriss weit entfernt im Westen bannte meinen Blick. Im blassen Licht der Mondsichel sah er aus wie die Ruine einer mittelalterlichen Burg; mächtig und wuchtig thronte er auf einem sanft ansteigenden, kuppelförmig gewölbten Hügel, noch schwärzer als die Nacht und auf stumme Weise drohend. Ich war überzeugt davon, dass er kein Teil der Friedhofsanlage war. Er war auch zu weit entfernt.
Ich drehte mich weiter und gewahrte eine Hand voll Lichter in der entgegengesetzten Richtung. Sie waren klein und blass, aber es waren keine Sterne, sondern die Lichter einer Stadt oder doch zumindest eines größeren Anwesens. Ganz gleich, was – dort drüben waren Menschen.
Rasch überzeugte ich mich noch einmal davon, dass Lady Audley in einer einigermaßen bequemen Stellung dalag, nickte ihr noch einmal aufmunternd zu und lief los.
Der Friedhof war größer, als ich geglaubt hatte. Die wie mit einem Lineal gezogenen Wege erstreckten sich annähernd eine halbe Meile lang dahin, ehe schließlich die zerfallenen Reste einer kniehohen Bruchsteinmauer vor mir aus dem Dunkel auftauchten. Ich entdeckte ein Tor und lief schneller.
Ein grässlicher Schrei zerriss die Nacht.
Abrupt blieb ich stehen, sah mich erschrocken um und griff gleichzeitig nach dem Stockdegen, der noch immer wie ein übergroßer Dolch unter meinem Gürtel steckte. Der Schrei wiederholte sich nicht, aber mit einem Male hatte ich das Gefühl, von huschender Bewegung umgeben zu sein, trappelnde Schritte zu hören, den Blick dunkler, von Mordlust erfüllter Augen auf mir zu spüren.
Ich vertrieb die Bilder aus meinem Unterbewusstsein und rief mich in Gedanken zur Ordnung. Um mich herum war nichts außer Dunkelheit und ein paar hundert Gräber.
Und trotzdem …
Lady Audley und ich waren nicht das einzige Leben auf diesem Friedhof, das spürte ich genau.
Plötzlich war links von mir eine Bewegung. Ein Schatten huschte durch die Nacht, viel zu groß für eine Ratte; ja, selbst zu groß für einen Menschen. Ein dunkles, schlagendes Geräusch ertönte, dann ein krächzender Laut, wie ein missglückter Schrei.
Ein Gefühl eisiger Kälte breitete sich in meinem Inneren aus. Der schlagende Laut wiederholte sich, dann hörte ich etwas, das wie das Rauschen mächtiger Flügel klang, die die Luft teilten.
»Shadow?«, flüsterte ich.
Keine Antwort. Die Schatten blieben stumm. Aber ich spürte mit jeder Sekunde deutlicher, wie ich belauert und beobachtet wurde.
Und es war irgendetwas Böses, Hinterlistiges an diesem Lauern.
Schaudernd versuchte ich, mir den rauschenden Laut noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Ich wusste nicht, was es gewesen war, aber ich war sicher, dass es nicht das Schlagen von Shadows Schwingen war. Es hatte sich … ledrig angehört. Wie das Flappen übergroßer Fledermausschwingen.
Ein bitterer Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus. Langsam zog ich den Stockdegen aus seiner Umhüllung, schmiegte die Hand fest um den Knauf aus gesprungenem Kristall und sandte ein
Weitere Kostenlose Bücher