Hexer-Edition 08: Engel des Bösen
und ich mit der Geschwindigkeit eines Gedankens hineingezerrt wurden.
Nacht. Ein Himmel wie eine schwarz lackierte Kuppel, bar jeden Lichtes, ohne Sterne, ohne Mond, trotzdem von einem ungesunden grauen Schein erhellt, der aus dem Nirgendwo kam und keine Schatten warf.
Howard begriff, dass es ein Traum war.
Trotzdem dauerte er an.
Anders als in einem normalen Traum wachte er nicht auf, als ihm die Tatsache, zu träumen, zu Bewusstsein kam. So, wie man sich nach dem Erwachen meist nur unscharf an das erinnert, was man geträumt hat, erinnerte er sich jetzt nur noch schemen- und bruchstückhaft an die Wirklichkeit. Er war in dem Labyrinth tief unter London gewesen, hatte die Rattenmenschen getroffen, dann das Ding, und dann …
Ein einzelnes, düster klingendes Wort echote hinter seiner Stirn: Thuuul.
Howard dachte einen Moment lang darüber nach, was dieses Wort bedeuten mochte, kam zu keinem Ergebnis und vertrieb den Gedanken. Langsam richtete er sich auf, drehte sich einmal um seine eigene Achse und sah sich um.
Das Gelände war flach, von rechtwinkeligen, sich an zahllosen Stellen kreuzenden Wegen durchzogen, zwischen denen sich flache Hügel erhoben, darauf manchmal halbmannshohe, rechteckige Blöcke, zerborstene Steine, Kreuze – ein Friedhof.
Seine Augen begannen sich an die unwirkliche Helligkeit zu gewöhnen; er sah, dass der Gottesacker schon lange vergessen und aufgegeben sein musste. Die meisten Grabsteine waren umgestürzt, die Gräber eingesunken und von Zeit und Wetter eingeebnet; Unkraut wucherte zwischen den vergessenen Blumenrabatten.
Ohne zu wissen, warum, drehte er sich abermals um und ging zwischen den verwahrlosten Grabreihen hindurch, einem Punkt entgegen, der in diesem Traum eine ihm noch nicht bekannte, aber sicherlich wichtige Rolle spielte.
Seine Schritte lenkten ihn auf einen besonders großen, von Erosion und Alter zerfressenen Grabstein zu. Als er näher kam, sah er, dass es der Eingang einer Gruft war, schräg aus dem Boden ragend wie der Bug eines im Schlick versunkenen Schiffes. Über der zugemauerten Tür waren Buchstaben in den Stein geschlagen:
Ly-e-ett
Howard blieb stehen. Sein Blick saugte sich an den zerfallenen Lettern fest, und irgendetwas in seinem Innern schien zu gefrieren. Es war ein Wort in einer Sprache, die er nie zuvor in seinem Leben gehört oder gesehen hatte, aber der eigenen Logik der Träume folgend, verstand er es.
Er wusste, was dieses Wort bedeutete. Ly-e-ett …
Den man den Hexer nennt …
Als wäre dieser Gedanke ein Auslöser gewesen, begann sich die Gruft zu öffnen. Der grau gewordene Ziegelstein verblasste wie ein Trugbild und ein unheimliches, grünblau flackerndes Licht floss wie zähflüssiges Wasser die Stufen der schmalen Steintreppe hinauf, die dahinter zum Vorschein kam. Eine Gestalt erschien, groß, unscharf wie ein Schatten, der an den Rändern zerfaserte, düster und seltsam unfertig.
»Roderick?«, flüsterte Howard. Seine Stimme bebte.
Die Gestalt kam näher, blieb auf der obersten Stufe stehen und sah ihn an. Die körperlosen Nebel vor ihrem Gesicht zerstoben und Howard begegnete dem Blick zweier dunkler, wissender Augen.
»Roderick!«, keuchte er. »Du -«
Andara hob die Hand und machte eine abwehrende Geste, als Howard auf ihn zustürzen wollte. »Komm nicht näher, Howard«, sagte er. »Ich bin nicht wirklich. Du kannst mich nicht berühren.«
»Aber was … was bedeutet das?«
Andara lächelte; das gleiche, stets sanfte und stets auch immer ein wenig traurige Lächeln, das Howard so gut an ihm kannte. »Du musst meinem Sohn helfen, Howard«, sagte er. »Er ist in Gefahr. In einer schrecklichen Gefahr. Du musst ihn warnen.«
Etwas blitzte hinter seinen Zügen auf, ein Schatten von Schmerz und Schrecken, der schneller verging, als Howard ihn wirklich erfassen konnte. »Robert«, sagte er noch einmal. »Hilf Robert, Howard.«
»Was soll ich tun?«, fragte Howard verwirrt. »Ich weiß ja nicht einmal, wo er ist.«
»Hilf ihm«, beharrte Andara. »Ich flehe dich im Namen unserer Freundschaft an, Howard, rette meinen Sohn!«
Und damit begann er zu verblassen. Sein Körper wurde wieder zu einem Schatten, schließlich zu einem kaum sichtbaren, dunklen Hauch. Dann war er verschwunden, und mit ihm die Tür und die Treppe und vor Howard erhob sich wieder die massive Wand aus grauem Ziegel.
Aber Howard starrte noch lange auf die Stelle, an der er gestanden hatte. Hilf meinem Sohn, wiederholte er Andaras Worte in Gedanken.
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