Hexer-Edition 15: Der Koloss von New York
Ein sauberes Geschäft und ein paar Albträume als Zugabe; und niemand erfährt je, was du getan hast. Und vielleicht gibst du dir dann selbst noch die Absolution und bist frei, ehe du stirbst. Aber so leicht ist es nicht. Nicht diesmal.«
»Wer … wer bist du?«, wimmerte Balestrano. »Wer bist du, wenn nicht Baphomet?«
»Aber du hast meinen Namen doch gerade selbst genannt«, sagte er Schatten mit übertrieben gespielter Verwunderung. »Ich bin dein Bruder Botho – oder das, was du aus mir gemacht hast. Ich bin tot.« Er kicherte. »Jaja, Bruder Jean. Ich bin tot, genau wie die drei anderen. Und trotzdem bin ich noch da. Ich werde immer da sein. Wir werden immer da sein. Solange du lebst. Wir warten auf dich. Morgen, wenn die Sonne aufgeht.«
Und damit verschwand der Schatten. Von einer Sekunde auf die andere spürte Balestrano, dass er nicht mehr da war.
Mit einem haltlosen Wimmern brach Jean Balestrano zusammen und begann zu weinen. Aber es half nichts.
Priscylla erwachte, als ich ins Lager zurückkam und das Zelt betrat. Das heißt, sie öffnete die Augen, und ihre Hände, die bisher reglos auf dem ledernen Einband des Buches gelegen hatten, begannen sich fahrig zu bewegen, ohne Ziel und abrupt und ruckartig, wie kleine, von bösartigem Eigenleben erfüllte Dinge. Ich erschrak fast selbst über diesen Gedanken, aber genau das war es, was ich in diesem Augenblick dachte, und mit einem Male glaubte ich auch zu verstehen, was es war, das Sitting Bull, Cody und die anderen meinten. Selbst mir fiel es schwer, mich Priscyllas Lager zu nähern und nicht mit einem angewiderten Laut zurückzuprallen. Mein Blick glitt über ihr Gesicht, suchte ihre Augen. Sie standen weit offen, sehr starr, ohne zu blinzeln, und es war kein Erkennen in ihrem Blick. Ihre Augen waren leer und wenn irgendwo dahinter noch so etwas wie ein klares Bewusstsein war, dann musste es tief, unendlich tief unter etwas anderem verborgen sein, etwas das …
Ach zum Teufel, warum gab ich es nicht zu?, dachte ich wütend. Schließlich hatte mir Necron gesagt, was er getan hatte, und selbst wenn nicht, hätte ich schon ein kompletter Idiot sein müssen, es nicht selbst zu sehen. Das Mädchen, das da vor mir lag, war nicht mehr Priscylla. Es war genau, wie Sitting Bull behauptet hatte: Sie war nicht mehr als eine leere Hülle, ein Körper, der von etwas ganz anderem beherrscht wurde als ihrem Bewusstsein. Was sie beherrschte, war kein Dämon, nicht der Geist einer Hexe, wie schon einmal, sondern etwas viel viel Schlimmeres. Die Macht dieses satanischen Buches. Die Macht, die Necron entfesselt hatte, und die nur er allein – und vielleicht nicht einmal er – wieder zu bannen imstande gewesen wäre. Aber Necron war tot und mit ihm waren alle Hoffnungen dahin, Priscylla jemals wieder aus dem Griff des Wahnsinnes zu befreien.
Der Gedanke war so entsetzlich, dass ich fast geschrien hätte, aber in diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass Necron noch am Leben wäre. Am Leben und hier und in meiner Gewalt, sodass ich ihn zwingen konnte, Priscylla aus diesem unseligen Bann zu befreien.
»Komm jetzt, Robert«, sagte eine sanfte Stimme hinter mir. Ich drehte mich um, erkannte Annie und rang mich zu einem flüchtigen, aber ehrlich gemeinten Lächeln durch.
»Ist es so weit?«, fragte ich. »Zeit für die Henkersmahlzeit?«
Annie blieb ernst. »Ixmal und Sitting Bull sind … bereit«, sagte sie stockend. »Ich soll dich holen.« Sie trat an meine Seite, blickte einen Moment auf Priscylla herab und konnte ein Schaudern nicht ganz unterdrücken. Ich verstand nur zu gut, was sie spürte. Sie wollte nicht, dass ich sah, welchen Widerwillen ihr dieser Anblick bereitete, und ich war ihr dankbar für diesen Versuch, auch wenn er kläglich misslang. Aber ich nahm ihr ihre Gefühle nicht übel. »Was ihr vorhabt ist … gefährlich«, sagte sie nach einer Weile, ohne mich dabei anzusehen.
Ich nickte. »Es ist möglich. Vielleicht. Vielleicht ist es auch ganz einfach. Und vielleicht geht es auch gar nicht.«
»Und vielleicht sterbt ihr auch alle«, fügte Annie düster hinzu. »Oder werdet wie … wie sie.«
Ja, dachte ich. Und vielleicht war dann alles vorbei. Der Gedanke schreckte mich nicht mehr; ganz im Gegenteil. Beinahe sehnte ich mich danach, endlich die Augen schließen zu können, für immer. Sitting Bulls Worte klangen hinter meinen Schläfen nach, so deutlich, als spräche er sie unmittelbar neben mir noch einmal aus. Ich
Weitere Kostenlose Bücher