Hexer-Edition 15: Der Koloss von New York
blinzelte ein paar Mal, um den verwirrenden Effekt zu verscheuchen, und fuhr sich schließlich mit dem Handrücken über die Augen. Das Fremde, Beunruhigende, das sich in den Winkeln der Wirklichkeit eingenistet hatte, blieb trotzdem. Aber vielleicht war es auch nur Müdigkeit. Er war erschöpft und müde und enttäuscht und sein gebrochener und nur hastig geschienter Arm schmerzte fast unerträglich. Sie hatten weder Necron noch Robert Craven gefunden, dafür aber eine Menge anderer Dinge, die Balestranos düstere Vorahnungen vom Morgen annähernd zur Gewissheit hatten werden lassen. Die Ruine der Drachenburg war vollgestopft mit Dingen voller übler Magie, gefährlichen Dingen, die vernichtet werden mussten, und er hatte nicht die geringste Ahnung, wie. Nein – er war nicht unbedingt in der Verfassung, über einen Schatten nachzudenken, der vermutlich nur seiner überreizten Phantasie entsprungen war.
»Fühlt Ihr Euch nicht wohl, Bruder Jean?«
Die Stimme des Kriegers riss Balestrano abrupt in die Wirklichkeit zurück. Er nahm die Hand herunter, lächelte verlegen und atmete hörbar ein. »Nein«, gestand er. »Ich bin müde und mein Arm schmerzt. Und wir sollten nicht hier sein.«
Der Templer – ein dunkelhaariger, breitschultrig gebauter Mann, nur wenig jünger als Balestrano, aber mit den kräftigen Händen eines Kriegers – nickte. »Dieser Ort macht mir Angst«, sagte er leise. »Wie lange bleiben wir noch hier?«
»Nicht mehr lange«, erwiderte Balestrano nach kurzem Überlegen. »Wir … wir brechen morgen auf, gleich bei Sonnenaufgang. Ich werde andere schicken, die Ruine zu bewachen. Ihr habt alles getan, als ich verlangen konnte.« Irgendwie kam er sich bei diesen Worten schäbig vor. Die meisten Kameraden des Kriegers, der vor ihm stand, hatten ihr Leben gegeben – und das war verdammt viel mehr gewesen, als er verlangen konnte.
Und wozu?, dachte er bitter. Nur um einen machtlüsternen alten Mann zu schlagen, der mit seinem Tun mehr Unheil heraufbeschworen hatte, als irgendeiner von ihnen jemals erfahren würde.
»Lass alles für den Abmarsch vorbereiten«, sagte er. »Wir brechen bei Sonnenaufgang auf. Die Männer sollen nur ein wenig Wasser mitnehmen, sonst nichts. Alles andere ist ersetzbar.«
Der Templer nickte. Es gelang ihm nicht ganz, seine Erleichterung zu verbergen. Keiner von ihnen fühlte sich wohl an diesem Ort. Selbst hier, eine halbe Meile unter der Ruine der Drachenburg, war ihre verfluchte Magie noch überdeutlich zu spüren, wie ein durchdringender Gestank, der die Luft verpestete.
»Soll ich Euch begleiten, Herr?«, fragte der Krieger, als sich Balestrano umwandte und mit schleppenden Schritten auf die Turmruine zuging. Für einen Moment war Balestrano versucht, das Angebot anzunehmen. Er war so müde. So unendlich müde. Ein stützender Arm hätte gut getan. Aber dann dachte er an das, was in den zerborstenen Überresten des Turmes auf ihn wartete, und schüttelte den Kopf. Keiner durfte sehen, was dort war. Dieses Geheimnis würde er mit in sein Grab nehmen. Und vielleicht darüber hinaus.
Balestrano war mit seinen Kräften am Ende, als er den halb niedergebrochenen Eingang des Turmes erreichte und das Gebäude betrat. Sein Herz jagte, als wolle es zerspringen, und jede noch so kleine Bewegung jagte flammende Schmerzpfeile durch seinen Arm und bis in die Schulter hinauf. Das Licht war schon schwach hier drinnen und im ersten Moment hatten seine Augen Mühe, überhaupt etwas zu erkennen. Trotzdem hielt er den Blick fast krampfhaft von den vier weiß verhüllten Körpern abgewandt, die in einer Ecke des kleinen Raumes lagen. Er musste sie nicht ansehen, um zu wissen, dass sie da waren. Sie würden immer da sein, ganz gleich, wie lange er noch lebte und wie weit er vor ihnen floh. Heute Nacht, wenn er sicher war, dass die anderen schliefen und ihn niemand überraschen konnte, würde er sie einbalsamieren und ihre Körper so zurecht machen, dass niemand das Entsetzliche sah, das mit ihnen geschehen war, und am nächsten Morgen, ehe sie aufbrachen, würden die vier beigesetzt werden, hier, an dem Ort, an dem sie gestorben waren. Und trotzdem würden sie ihn verfolgen, das wusste er. Er würde sie im Traum sehen. Ihre vor Entsetzen und Qual zu Grimassen gewordenen Gesichter würden ihm entgegenstarren, wenn er die Heilige Messe las und in den Becher mit Messwein blickte, ihr Grinsen würde ihn durch die Zeilen der Bibel hindurch anstarren, ihr Kichern würde aus den Schatten
Weitere Kostenlose Bücher