Hexer-Edition 15: Der Koloss von New York
zitterte vor Erregung. »Sprich nicht von ihr wie … wie von …«
»Von einem Stück Fleisch?« Sitting Bull lachte ganz leise. »Aber mehr ist sie nicht mehr, Blitzhaar. Du liebst sie, das Mädchen, das sie einmal war. Aber das ist sie nicht mehr. Sie ist nur noch ein Körper. Ein Ding, das atmet und isst und trinkt und ausscheidet, aber mehr nicht. Das Mädchen, das du kennen gelernt hast, gibt es nicht mehr. In ihr ist …« Er suchte einen Moment nach Worten. »Kälte. Ich spüre nichts als Leere und Kälte.«
»Hör auf!«, sagte ich. »Hör sofort auf, oder ich –«
»Oder was?« Sitting Bulls Blick wurde hart. »Willst du mich schlagen? Tu es, wenn es dich erleichtert. Ich werde mich nicht wehren.« Er breitete die Arme aus. »Tu es. Du wirst feststellen, dass sich die Wahrheit nicht erschlagen lässt.«
Plötzlich kam ich mir schäbig vor, diesem alten, erschöpften Mann gedroht zu haben. Ohne Sitting Bull wäre ich nicht mehr am Leben und Priscylla wahrscheinlich auch nicht mehr. Betreten senkte ich den Blick.
»Verzeih«, sagte ich. »Ich … es tut mir Leid.«
Sitting Bull lächelte. »Schon gut. Manchmal sagt jeder Dinge, die er besser nicht ausgesprochen hätte. Komm mit mir zurück ins Lager. Wir müssen reden.«
»Es gibt nichts zu reden«, antwortete ich. »Ich trenne mich nicht von Priscylla.«
»Auch nicht, wenn es dein Tod wäre?«
»Auch dann nicht«, antwortete ich. »Aber das wird nicht geschehen. Ich werde ihr helfen.«
»Und wie?«, fragte Sitting Bull milde. »Du kannst das NECRONOMICON nicht zurücklassen, ohne dass sie stirbt. Und du kannst dieses Buch nicht mitnehmen, Robert.«
»Ach?«, fragte ich böse. »Kann ich nicht?«
Sitting Bull schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er sehr ernst. »Ich werde es verhindern. Und Annie und Cody und die anderen auch. Wir haben darüber gesprochen, als du geschlafen hast.«
»Wie nett, dass ich wenigstens erfahre, dass ihr über meine Angelegenheiten redet, wenn ich nicht dabei bin«, fauchte ich.
»Es sind nicht deine Angelegenheiten«, belehrte mich Sitting Bull sanft. »Nicht, wenn das Leben zahlloser Unschuldiger auf dem Spiel steht.« Er schwieg einen Moment, um seinen Worten das gebührende Gewicht zu verleihen, dann fuhr er, noch immer sehr leise, aber in verändertem Tonfall, fort: »Ich bin gekommen, um dir einen Vorschlag zu machen, Blitzhaar. Wir wussten, wie deine Antwort ausfallen würde, und wir haben darüber geredet. Wir werden dir helfen.«
»Helfen?«, fragte ich böse. »Wobei? Wollt ihr knobeln, wer von euch Priscylla umbringt, damit ich es nicht tun muss?«
Sitting Bull ignorierte meine Worte. »Du bist ein Mann von großer magischer Macht«, fuhr er ruhig fort. »So wie auch ich über Dinge weiß, die anderen verborgen sind, und auch Ixmal. Er und ich und du, wir werden versuchen, den Geist des Mädchens vom Einfluss dieses Buches zu trennen. Nur einmal«, fügte er rasch und mit erhobener Stimme hinzu, als ich aufblickte. »Ein Versuch, Robert, nur ein einziger Versuch. Schlägt er fehl …«
Er sprach nicht weiter, aber das war auch nicht nötig. Wenn dieser eine Versuch fehlschlug, würde es nichts mehr geben, was zu retten ich versuchen konnte, das wusste ich und er wusste, dass ich es wusste. Aber hatte ich eine Wahl?
»Du … verlangst viel, Häuptling«, sagte ich stockend. »Und es könnte … gefährlich sein. Auch für dich.«
»Ich weiß«, antwortete Sitting Bull leise. »Manchmal ist der Preis dafür hoch, einen Freund zu haben. Willst du es tun?«
»Wann?«
»Heute Nacht«, antwortete Sitting Bull. »Du wirst jetzt zurückgehen in dein Zelt und ich werde dir einen Trank geben, der deine Kräfte zurückkehren lässt. Heute Nacht, wenn der Mond am Himmel steht und die Macht der Geister am größten ist, werden wir es versuchen.«
Die Macht der Geister, wiederholte ich in Gedanken. Und dabei hoffte ich inbrünstig, dass Sitting Bull genau wusste, von welchen Geistern er sprach.
Es dämmerte, als Balestrano zurückkehrte. Das schwächer werdende Licht des Tages verlieh der Burgruine etwas Gespenstisches: Alles schien genau anderes herum zu sein, als es sein sollte – die Schatten waren wie finstere Mauern, hinter denen sich Dinge bewegten, die sich nicht bewegen sollten, und die Schritte der Männer neben ihm kamen ihm irgendwie irreal vor. Das Wispern des Windes hatte etwas vom Geheul schattiger großer Wölfe, und dort, wo noch Licht war, war … irgendetwas.
Balestrano blieb stehen,
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