Hexer-Edition 15: Der Koloss von New York
unmöglich! Ich erinnerte mich ganz genau an die Feuerwand, die vor mir hochgeschossen war und mich eingehüllt hatte wie ein schrecklicher, alles verzehrender Mantel. Sollte ich mir das alles nur eingebildet haben?
Und wo war das Monstrum? Warum hatte es mich nicht getötet, als ich ohnmächtig und wehrlos am Boden lag? (Nicht, dass ich besonders enttäuscht über diese Tatsache gewesen wäre.)
Ein stechender Schmerz durchzuckte mein rechtes Bein, als ich mich aufrichtete. Ich hatte es mir wohl bei dem Sturz geprellt. Außerdem blutete meine Nase; ich konnte den süßlichen Geschmack auf meinen Lippen spüren. Ich presste ein Taschentuch darunter und tastete mit der freien Hand in die Dunkelheit vor mir.
Jetzt konnte ich vage Konturen erkennen; durch das Kellerfenster drang das erste Grau der Morgendämmerung herein und verwandelte den Staub in eine tanzende Wolke feinen Nebels.
Ich musste über fünf Stunden bewusstlos gewesen sein! Und das Monstrum war natürlich längst über alle Berge.
Ich machte einen Schritt auf das Fenster zu – und trat auf ein am Boden liegendes Reagenzglas. Mit wild rudernden Armen setzte ich mich auf meine Kehrseite. Mein Fluch hätte jedem irischen Seemann zur Ehre gereicht. Ich kämpfte mich ächzend wieder auf die Beine und setzte meinen Weg fort – diesmal sogar ganze vier Yards. Dann trat ich in einen Blecheimer, blieb mit dem Fuß darin stecken und humpelte noch ein paar Schritte weiter, bevor ich vornüber kippte.
Aus der Dunkelheit hinter mir glaubte ich ein leises, höhnisches Kichern zu vernehmen. Erschrocken fuhr ich herum und blickte wild um mich, doch bei diesen Lichtverhältnissen konnte ich natürlich nichts erkennen. Ich lauschte ein paar Sekunden lang, aber alles blieb still. Hatten mir meine Sinne einfach einen Streich gespielt?
Schließlich richtete ich mich wieder auf, zerrte den Eimer von meinem Fuß und trat an das Kellerfenster. Als ich mich hochzog, schnitt mir eine vorstehende Glasscherbe fast den Mittelfinger ab. Mit einem unterdrückten Schmerzensschrei schwang ich mich ins Freie und steckte den Finger in den Mund. Dann wickelte ich das Taschentuch darum, was natürlich zur Folge hatte, dass nun das Blut aus meiner Nase schoss und meine Weste besudelte.
Über den Dächern ging gerade die Sonne auf und vertrieb die letzten Nebelschwaden, die sich in dunklen Ecken und Nischen eingenistet hatten. Ihre goldenen Strahlen enthüllten erbarmungslos, was die Nacht gnädig mit ihrem Mantel bedeckt hatte: Die Häuser, die mich umgaben, waren allesamt abbruchreif; verkommene, leer stehende Mietskasernen mit zum Teil abgedeckten Dächern und durchbrochenen Etagen, zwischen denen das Ungeziefer hauste, Mauern, auf denen Unkraut und wilder Brombeer wucherte, von Abfall überzogene Straßen.
War dies hier wirklich noch London?
Ich hatte geglaubt, die Stadt zu kennen; schließlich war sie zu meiner zweiten Heimat geworden. Aber offensichtlich war ich nie über die Innenstadt und die sie umgebenden Bezirke hinausgelangt. Dies hier war eine tote Welt; ein vergessener Trabant.
Und irgendwo in diesen Ruinen lauerte ein Wesen der Hölle darauf, sein Versteck zu verlassen und nach Beute zu suchen, nach ahnungslosen Landstreichern und kleinen Ganoven, die in den verfallenen Baracken ein Nachtlager zu finden hofften.
Doch um alle Häuser, alle Zimmer zu durchsuchen, hätte ich Tage, wenn nicht Wochen gebraucht. Und selbst dann wäre der Erfolg noch ungewiss. Das Monster war nicht verletzt gewesen; im Gegenteil: Meine Schüsse hatten es nur gereizt. Jetzt erst wurde mir bewusst, dass es allein das Mündungsfeuer gewesen sein musste, das mich gerettet hatte. Deutlich sah ich das Wesen vor mir, wie es vor der Feuersäule im Keller zurückgewichen war, die Arme vor das Gesicht gerissen. Licht! Das war es! Es konnte die Helligkeit nicht vertragen!
Also musste, wenn meine Theorie stimmte, dieses Monstrum am Tage hilflos sein, sich in irgendeinem finsteren Loch verkriechen und auf die Abenddämmerung warten. Wenn sie stimmte …
Ich musste zurück zu meinem Haus am Ashton Place, um mich mit Howard zu beraten und zusammen mit ihm unser weiteres Vorgehen zu besprechen. Noch etwas benommen humpelte ich los.
Als ich in die Straße einbog, wo ich mich von meinem Kutscher getrennt hatte, blieb ich überrascht stehen. Natürlich hatte ich nicht damit gerechnet, ihn noch hier anzutreffen; mir war klar, dass er das Mädchen sofort in das nächst gelegene Hospital gefahren haben
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