Hexer-Edition 15: Der Koloss von New York
die Peitsche knallen, die Kutsche ruckte an und setzte sich schwankend in Bewegung. Howard blies eine dichte Rauchwolke zu mir herüber und lehnte sich mit sorgenvollem Gesicht in die weichen Polster zurück.
Und ich saß stumm da und versuchte vergeblich, Ordnung in meine wirbelnden Gedanken zu bekommen …
»Hier ist es.« Howard zog ein dickes, in uraltes, brüchiges Schweinsleder gebundenes Buch aus dem Regal und ließ es unsanft auf den Tisch fallen. »Das Mystericum Humanum.«
Wir befanden uns in der Bibliothek meines Hauses am Ashton Place, in den unteren Räumen, die ein Besucher niemals zu Gesicht bekam. Hier stapelten sich in deckenhohen Regalen all die Schätze, die mein Vater im Laufe seines Lebens zusammengetragen hatte. Schätze aus Papier, Leder und Tinte. Ich konnte dem Raum keine rechte Begeisterung mehr abgewinnen; zuviele Monate hatte ich beim Schein einer Karbonlampe hier unten gesessen und die alten Folianten studiert. Diejenigen zumindest, deren Schrift ich entziffern konnte. Die meisten waren – zu meinem Bedauern – in Arabisch oder Latein verfasst.
Ich hatte gedankenverloren in mein Glas Rotwein gestarrt, das Rowlf mir vor fünf Minuten gebracht hatte, und schrak auf, als Howard den schweren Folianten auf die Tischplatte knallte. Fast hätte ich den Wein verschüttet.
Howard ließ sich neben mir auf einen Stuhl sinken und blätterte in dem Buch herum. Natürlich war es mit lateinischen Schriftzeichen gespickt …
Trotzdem folgte ich mit Blicken neugierig Howards Fingern, die suchend über die alten Buchstaben fuhren.
»Gnom, Gnostische Gemme, Goldenes Kalb … ah, hier: Golem.«
Ich beugte mich weiter vor und betrachtete die Illustrationen, während Howard sich in den Text vertiefte. Minutenlang sagte er kein Wort; seine Lippen bewegten sich stumm und mehr als einmal nahm er ein kleines Wörterbuch zur Hilfe. Dann löste er seinen Blick von den Zeilen und sah mich an.
Ich erschrak. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren und in seinen Augen stand ein unstetes Flackern. Ich war zu verblüfft, um irgendetwas zu sagen. Endlose Sekunden starrte er mich nur an und rang sichtlich nach Fassung. Als er endlich zu sprechen anhob, klang seine Stimme dünn und brüchig.
»Es ist schlimmer, Robert«, flüsterte er. »Wenn dieses Buch nicht irrt – und das schließe ich aus – dann wird nicht nur der Golem … dann werden …«
Er stockte und holte tief Luft. »Ich lese dir am besten die entsprechende Passage vor«, sagte er dann, blätterte eine Seite zurück und konzentrierte sich.
»So ist der Golem nicht etwa zu vergleichen mit magisch erweckten Toten, sondern ist gleichsam Symbol für das Mysterium des Lebens selbst. Wer es ergründet, der hat die Macht über den Tod, über die Zeit. Vergangene Materie wird er erwecken und das Fleisch dem Verfall entreißen. Doch hüte dich, Menschengeschlecht! Es ist verboten seit undenklichen Zeiten, sich an der Schöpfung zu versuchen. Triumph wird sich wandeln in unendliche Pein und das Weltengefüge wird erbeben zum Jüngsten Gericht. Ist das eherne Gesetz der Götter gebrochen, werden die Pforten Nirwanas sich öffnen und die Toten werden Rache nehmen an den Lebenden. Und nur der Tod des Toten kann die Götter besänftigen und die Armeen des Bösen zurückwerfen in die ewige Verdammnis …«
Eine seltsame Leere hielt mein Hirn umfangen. Minutenlang war ich wie gelähmt, konnte keinen klaren Gedanken fassen oder auf Howards Worte antworten. Nur langsam begriff ich die schreckliche Konsequenz dessen, was geschrieben stand, und mit jeder Sekunde offenbarte sich mir neuer Schrecken.
Meine Kehle war ausgetrocknet, als hätte ich tagelang nichts mehr getrunken, und die Zunge lag wie ein aufgedunsener Schwamm in meinem Mund.
Mit einer fahrigen Bewegung griff ich nach dem Weinglas und leerte es in einem Zug. Danach fühlte ich mich – körperlich zumindest – etwas besser.
»Mein Gott«, krächzte ich schließlich. »Soll das heißen, dass … dass die …«
»Dass die Gräber sich öffnen werden und die Toten freigeben, ja«, bestätigte Howard meine schlimmsten Ahnungen.
»Aber das ist doch Theorie«, wandte ich in einem lächerlichen Versuch, mich gegen fest stehende Tatsachen aufzulehnen, ein. »Ich meine, was da beschrieben wird, ist nie geschehen. Das Buch kann sich irren!« Meine Worte kamen viel zu hastig, um noch überzeugend zu klingen.
Howard antwortete nicht. Stattdessen stand er auf, ging zum Tisch mit der Leselampe hinüber und
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