High - Genial unterwegs an Berg und Fels
Routen pro Tag, alle zwischen 8a und 8c+. Die anderen wunderten sich, dass ich dermaßen Gas gab, aber war ich nach Amerika gefahren, um zu klettern oder um mich auszuruhen?
Wir wohnten in einem kleinen Häuschen in Tenney Mountain, mitten im Wald, und der Wald war ein Traum. Er hatte alle Farben, die ein Wald haben kann, es roch nach Herbst, Indian Summer, und nur wenn ich kletterte, vergaß ich, dass ich in Amerika war. Amerika war weit weg. Der Fels fühlte sich an wie zu Hause.
Zurück in Innsbruck lernte ich einen Holländer namens Jorg Verhoeven kennen. Blonde, kurze Haare und ein strahlendes Lächeln. Er stand vor dem Tivolistadion, hatte einen Rucksack dabei und eine Gitarre, und er fragte mich, ob ich eine Idee hätte, wo er übernachten könnte.
»Ja«, sagte ich. »Komm erst einmal zu uns.«
Wir hatten zwar in Götzens keine besonders große Wohnung. Aber das Sofa war groß genug für Jorg. Meine Eltern schauten ein bisschen überrascht, als ich mit dem neuen Mitbewohner nach Hause kam, aber Jorg war charmant und unterhaltsam, und es würde ja nicht für immer sein.
Er war 20, fünf Jahre älter als ich. Kam aus Abcoude bei Amsterdam. Darauf war er besonders stolz, weil es kein anderes Dorf in Europa gibt, das mit den Buchstaben A, B, C beginnt. Er hatte in der Schule auf der Kletterwand mit dem Klettern angefangen, war mit seinen Eltern kreuz und quer durch Europa gereist und hatte in Südfrankreich seine Liebe zum Felsklettern entdeckt. Er war früh ins Wettkampfklettern eingestiegen und hatte sich konsequent an die Spitze herangearbeitet, bis er absolute Weltklasse war. Nachdem er die Schule fertiggemacht hatte, nahm er kurz entschlossen den Flieger und reiste nach Arco, um dort zu klettern, und weil er kein Geld hatte, wohnte er in einer der vielen Höhlen in Massone, und tat nichts außer Essen, Schlafen und Klettern. Die Höhle teilte er sich übrigens mit einem kleinen Haustier: einem jungen Wildschwein, das nachts gern zu Jorg kam und sich neben seinen Schlafsack legte.
Die wahnsinnigste Story von Jorg ist, wie er damals beim Klettern stürzte und sich den Fuß brach. Er ging aber nicht zum Arzt, sondern kletterte weiter, er fuhr sogar mit dem kaputten Haxen zum Weltcup in Lecco. Er konnte fast nicht gehen, hinkte wie ein Kriegsveteran, schaffte es aber trotzdem bis ins Halbfinale. Dann nahmen ihn allerdings die Sanitäter fest und brachten ihn ins Spital. Auch sie fanden die Story legendär. Dabei wussten sie gar nicht, dass Jorg schon zwei Wochen in diesem Zustand herumgehumpelt war.
Jorg ließ sich dann noch ein bisschen treiben. Er wohnte bei einem Freund in Südfrankreich, lernte ein Mädchen aus Brüssel kennen und zog für ein Jahr zu ihr. Als die Beziehung vorbei war, trampte er durch die Alpen. So kam er nach Innsbruck, verbrachte die erste Nacht auf einer Bank im Hofgarten, dann war er zum Tivolistadion gegangen, um vielleicht einen Kletterer zu treffen, der ihm weiterhelfen konnte. Jorg übernachtete dann eine Zeit lang bei uns auf dem Sofa. Dann lernte er die Saurwein Katharina kennen, eine super Kletterin aus Reinis Gruppe, verliebte sich in sie und zog bei ihr ein.
Ich ging mit Jorg oft in die Halle, und wir trainierten gemeinsam. Er ist ein großartiger Kletterer. Aber er wollte nicht nur in der Halle trainieren. Wir kletterten am Fels, und irgendwann erzählte er mir, dass es in England besonders lässig am Fels sei.
»Okay«, sagte ich. »Dann fahren wir doch nach England und klettern.«
England ist sehr bekannt für seine gefährlichen Touren. Außerdem haben die Engländer beim Klettern eine besondere Ethik. Für sie ist es ausgeschlossen, den Fels zu beschädigen, indem sie Haken einbohren oder einschlagen. Sie verwenden nur Friends und Klemmkeile, und auch die Normalhaken dürfen nicht mit dem Hammer eingeschlagen werden, sondern nur mit der Hand. Wenn keine Sicherung gelegt werden kann – darauf läuft die Sache nämlich hinaus –, wird eben keine gelegt.
Wir flogen nach England und fuhren mit dem Mietauto Richtung Stanage Edge. Stanage ist ein Felsabbruch in der Nähe von Sheffield, der sich rund um einen Hügel zieht. 15 Meter hohe, senkrechte Wände. Alle paar Meter neue Routen. Wenn dir eine Route gefällt, machst du sie, wenn nicht, gehst du weiter. Du brauchst keinen Führer, du brauchst keine Topos, die unter Kletterern üblichen Aufzeichnungen, auf denen jede Route genau notiert ist. Du kannst enorm schwierige Sachen klettern, die du zuerst, von oben am
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