High - Genial unterwegs an Berg und Fels
dass wir uns nicht viele Fehler erlauben dürfen. Fehler kosten Zeit und Kraft. Wenn wir zu viele Fehler machen, steigen wir die Tour an einem Tag nicht durch.
Es ist der Dienstag nach Pfingsten. Wir schlafen im Auto, stehen um halb vier auf und marschieren um vier vom Parkplatz los, der ein paar Kilometer nördlich von Dro liegt. Nach einer Stunde sind wir beim Einstieg, es ist hell und frisch, ein sanftes Dämmerlicht färbt die Felsen warm. Eine Stunde später haben wir bereits die 400 Meter langen Vorbauplatten erledigt.
Jetzt ist es plötzlich sauheiß. Die Sonne brennt wie noch nie in diesem Frühjahr. Durst.
»Vielleicht hätten wir doch mehr als einen halben Liter Wasser mitnehmen sollen«, sagt Jorg. Aber wir haben nicht mehr als einen halben Liter. Wir müssen uns den schmalen Vorrat einteilen, bis wir beim Portaledge ankommen, das unter dem großen Dach hängt. Dort ist einiges an Proviant und Wasser gebunkert.
Wir sind gut im Rhythmus. Nähern uns Länge für Länge den schweren Stellen. Jorg schafft die erste wirklich schwierige Passage auf Anhieb. Als ich die nächste vorsteige, rutsche ich ab und hänge ein paar Meter weiter unten im Seil.
Kein Stress, guter Normalhaken.
Beim zweiten Versuch habe ich kein Problem mehr. Drei Seillängen höher hängt unser weißes Portaledge in der Wand. Wir machen eineinhalb Stunden Pause. Wasser gegen den Durst. Wir haben sogar einen Kocher dabei und es gibt warme Nudelsuppe. Luxus. Wir haben 20 Seillängen hinter uns. Vor uns noch acht. Aber was für acht.
Von hier aus hängt der Fels bis zum Ausstieg noch extremer über. Er ist enorm brüchig. Du musst dich permanent vergewissern, ob du jeden Griff richtig belastest. Fehler sind nicht erlaubt. Die Magnesiumstriche, mit denen wir Griffe und Tritte markiert haben, sind noch alle da. Bei über tausend Zügen vergisst du sonst schnell einen.
Noch acht Seillängen. Sie haben der Reihe nach die Schwierigkeiten 10, 10–, 7–, 9–, 9–, 10–, 10– und 10–.
»Countdown«, sage ich.
»Okay. Acht«, sagt Jorg und steigt wieder ein.
Er schafft die Länge mit etwas Anstrengung, aber ohne zu stürzen.
»Sieben.«
Ich spüre die bisherige Tour in den Knochen. Kämpfe mich im brüchigen Fels nach oben, während ein Geschwader Basejumper sich von oben auf den Weg nach unten macht. Sie werden schneller am Ziel sein als wir. Lucky you.
»Sechs.«
Auch Jorg kämpft. Wenn Jorg müde wird, bekommt er extreme Augenringe. Er sieht dann aus wie ein 60jähriger.
»Fünf.«
Ich spüre die Vorahnung von Freude. Die Längen, die wir jetzt klettern, sind sauschwer, die Bedingungen gut, aber wir kennen die Probleme, wir haben sie ausgecheckt, und die Züge, die wir machen, sind präzise und richtig.
Aber in die wachsende Müdigkeit, in die physische und psychische Anstrengung, mischt sich die Sorge, dass ich ausgerechnet die letzte Seillänge nicht wirklich kenne. Sie war nass, als wir das letzte Mal in der Wand ausgecheckt hatten.
»Vier.«
Die Zeit beginnt sich elastisch zu dehnen. Wenn du ausgeruht kletterst, spielt Zeit keine Rolle. Sie rinnt unmerklich und regelmäßig, wie Sand durch eine Sanduhr. Jetzt vergeht sie zäh und langsam. Ich merke, dass Jorg sich bei jedem einzelnen Zug abmüht. Sein Krafthaushalt läuft auf Reserve.
»Drei.«
Auch mein Motor stottert. Ich sehe nur noch die Wand und ihre Schwierigkeiten. Magnesiumstriche. Hier hingreifen. Ich kämpfe. Denke kaum noch. Funktioniere.
»Zwei.«
Als Jorg im Zeitlupentempo seine letzte Länge vorsteigt, habe ich nur noch die letzte Seillänge im Kopf. Ist die Sau noch immer nass? Gut. Jorg ist oben. Er sichert mich nach.
»Eins.«
Ultimo. Ich bouldere die Schlüsselstelle noch einmal schnell aus, prüfe, welche Griffe halten. Die Griffe sind gut. Es sind noch vierzig Meter, vierzig Meter schwierigstes Klettern, aber während ich Zug um Zug mache, spüre ich, dass mir die erwachende Euphorie Kraft gibt, und ich klettere, so gut ich kann, und dann bin ich oben, und dann sichere ich Jorg nach, und wir klatschen uns ab und wir schweigen.
In unseren Gesichtern steht geschrieben, was man wissen muss. 28 Seillängen, 1100 Klettermeter, es ist viertel vor sieben, wir sind fast vierzehn Stunden geklettert.
Wir haben die erste Tour durch die überhängende Wand des Monte Brento befreit.
Es sind diese Momente, für die wir leben.
Nach dem Abstieg werden wir bei Marco in Arco sitzen und Pizza bestellen und Eis essen, und ich weiß genau, welche Sorten es
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