High - Genial unterwegs an Berg und Fels
Aber es ist noch früh genug. Von Arco nach Innsbruck sind es nicht viel mehr als zwei Stunden.
»Fahren wir«, sagt Jorg.
Mir soll’s recht sein. Ich bin platt. Ich schmeiße mich auf den Beifahrersitz, versuche wie immer wach zu bleiben, aber auf der Autobahn kurz vor Bozen werden meine Augenlieder einfach zu schwer, und ich dämmere langsam weg.
Plötzlich werde ich wachgerüttelt. Wir haben die Leitplanke touchiert. »Scheiße«, knurrt Jorg. Sekundenschlaf.
Wir nehmen die nächste Ausfahrt, Bozen Süd, und fahren auf einen Parkplatz in der Industriezone. Das Auto hat einen langen rostfarbenen Kratzer, der an der Beifahrertür beginnt und sich bis zum hinteren Kotflügel zieht. Zumindest läuft das Auto noch; und uns ist nichts passiert.
Das Projekt war schon uralt. Jedes Mal, wenn wir zum Gardasee fuhren, blieb mein Blick am Monte Brento hängen oder, genauer gesagt, an seiner mächtigen, konkaven und extrem überhängenden Wand. Der Fels ist gelb und brüchig. Riesige Dächer ragen aus der Vertikalen. Ein paar verrückte Kletterer haben in den siebziger Jahren Erstbegehungen durch die Wand gemacht, es entstanden einige Techno-Routen. Frei geklettert hat die Wand noch niemand. Als Jorg und ich wieder einmal von Arco nach Innsbruck unterwegs waren, schauten wir uns die Wand ein bisschen genauer an. Wir überlegten nicht, ob eine freie Begehung funktionieren würde. Wir diskutierten, wie sie funktionieren könnte. Das war der Start des Projekts.
Im Herbst 2008 stiegen wir das erste Mal ein. Wir hatten natürlich gewusst, dass wir uns auf ein ziemliches Abenteuer einlassen, aber wie brüchig der Fels tatsächlich war, hatten wir nicht geahnt. Wir wollten die Wand in zwei Tagen durchklettern und schafften am ersten Tag 450 Meter. Wir hatten nur dünne Schlafsäcke dabei und fanden kein Podest, auf dem wir hätten schlafen können. Wir verbrachten dann die Nacht im Gurt hängend. Eine Scheißnacht. Es regnete, und der Wind ging. Um acht schlief ich ein. Ein paar Stunden später wachte ich auf, weil mir alles weh tat. Da war es neun.
Am zweiten Tag kletterten wir weitere 200 Meter. Dann brachen wir den Versuch ab.
Wir ließen ein halbes Jahr vergehen, bevor wir das Projekt fortsetzten. Diesmal mit schweren Geschützen. Wir hatten zwei Haulbags mit insgesamt 70 Kilo Ausrüstung dabei und ein Zweimann-Portaledge. Eine weitere Nacht im Gurt fanden wir nicht attraktiv. In der Scheißnacht von damals hatte ich mir das Pfeiffer’sche Drüsenfieber geholt, und ich war dann einen Monat lang außer Gefecht gewesen.
Am ersten Tag kletterten wir 500 Meter. Am zweiten stießen wir bis zum großen Dach auf rund 750 Meter vor. Am dritten Tag durchstiegen wir die gewaltigen Überhänge, die uns echt auf die Probe stellten. Als wir bei Einbruch der Dunkelheit am Ausstieg saßen und uns abklatschten, fielen mir fast die Augen zu, und wir hatten beim besten Willen keine Kraft mehr, uns auf den Weg nach unten zu machen. Außerdem war es dafür schon zu spät, der Abstieg dauert mindestens fünf Stunden.
Wir verbrachten die Nacht auf einem unförmigen Hügel aus Steinen, zogen uns die dünnen Schlafsäcke über, die wir mitgenommen hatten, um Gewicht zu sparen, schlüpften damit in die Haulbags, die uns bis zur Hüfte gingen und legten uns auf die Seile. Es war saukalt. In der Früh quälten wir uns die fünf Stunden ins Tal, zum Auto, voll fertig. Aber happy.
Wann immer wir einen Tag Zeit fanden, fuhren wir nach Arco, um die einzelnen Seillängen auszubouldern. Wir seilten uns vom Ausstieg ab und prüften jeden Meter, ob man ihn frei klettern konnte.
Es war ein Geduldsspiel.
Wir verbrachten noch einmal fünf einzelne Tage in der Wand. Wir opferten das Auto an der Leitplanke.
Wir probierten und wir diskutierten. Geht es oder geht es nicht? Fehlen ein paar Meter oder gehen auch die ganz großen Schwierigkeiten, 9+ und 10–? Immerhin sechs der insgesamt 28 Seillängen waren im zehnten Schwierigkeitsgrad.
Ich dachte immer wieder an den Torre. Ich verglich die Gründlichkeit, mit der wir hier arbeiten konnten, mit der schnellen Entschlossenheit, die unter den speziellen Wetterbedingungen Patagoniens notwendig ist. Ich kam zum Schluss, dass nur eine Eigenschaft beiden Projekten ein gutes Ende bescheren würde: Hartnäckigkeit. Ich gebe nicht gern auf. Ich beiße mich durch.
Ende Mai 2010 probieren wir, die Route durchzusteigen. Das Wetter ist okay. Wir wissen, dass die Tour theoretisch zu machen ist. Aber wir wissen auch,
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