Highland-Saga 03 - Schild und Harfe
Also sind wir gegangen und haben nachgesehen …«
Mit einem zitternden Finger wies er auf den Fluss. Heute lag der feuchte Nebelschleier, der sich manchmal an sehr heißen Tagen bildete, nicht über der Landschaft, und so konnte man an der südöstlichen Spitze der Insel eine große Zahl blendend weißer Segel erkennen. Isabelle stieß ein Stöhnen aus. Das bedeutete Krieg, kein Zweifel. Québec stand eine Belagerung bevor.
»Was wir da sehen, ist offenbar nur die Vorhut ihrer Flotte«, fuhr Julien ernst fort. »Sogar den größeren Schiffen ist es gelungen, die Fährstation 31 zu passieren, die wegen ihrer Untiefen angeblich nicht schiffbar ist. In der Nähe der Île Madame sollen sich noch gut sechzig große Schiffe und mehr als hundert kleinere befinden. Das ist furchtbar; schlimmer als alles, was wir vorausgesehen haben!«
Frauen rannten unter entsetzten Schreien zur Landspitze; erschreckte Kinder flüchteten sich ins Gebüsch, da die Röcke ihrer Mütter nicht erreichbar waren. Auf Cap Diamant herrschte plötzlich große Aufregung. Und dabei hatte man mit dieser Invasion gerechnet. Vor einem Monat hatte man die Vorhut der englischen Flotte vor Rimouski auf dem Meer gesichtet. Daraufhin hatte Montcalm den Bewohnern des Südufers befohlen, ihre Häuser zu verlassen und sich mit allem, was sie tragen konnten, landeinwärts zu begeben. Gleichzeitig hatte er alle waffenfähigen Männer sofort nach Québec beordert.
Die Menschen hatten ihre schmalen Lebensmittelvorräte versteckt und die geweihten Gegenstände aus den Kirchen – Kelche, Monstranzen, Bibeln, Tabernakel – vergraben; alles, was diese protestantischen Häretiker vielleicht stehlen wollten. Die Île d’Orléans war evakuiert worden. So war Madeleine mit ihrem Mann unter Charles-Huberts Dach untergekommen. Doch sie sah Julien nicht sehr oft. Wie alle anderen Männer war er zur Miliz berufen worden und wirkte bei der Verstärkung der Stadtmauer und am Bau neuer Festungsanlagen an der Küste von Beauport mit.
Innerhalb weniger Wochen waren flussabwärts von Québec an drei Stellen zwischen dem Saint-Charles-Fluss und dem Sault de Montmorency Palisaden, Gräben und Schanzanlagen entstanden. Montcalm hatte es nicht für nötig gehalten, flussaufwärts Befestigungen errichten zu lassen: Niemals würden die Engländer weiter kommen als bis zur Île d’Orléans. Außerdem würden strategisch platzierte Batterien jedes Schiff zurückschlagen, das versuchte, die Stadt zu passieren.
Isabelles Herz klopfte zum Zerspringen. Gewiss wartete Nicolas in diesem Moment auf die Entscheidungen des Kriegsrats von Montcalm und seinem Generalstab. Würden sie sofort zurückschlagen oder die ersten Bewegungen des Feindes abwarten?
Mit einem Mal hatte sich eine merkwürdige Stille über die Höhen von Québec gesenkt. Sogar die Amseln, die vorhin noch gezwitschert hatten, waren verstummt. Es war, als hätte die Erde aufgehört, sich zu drehen. Alle Stadtbewohner, die dort zusammengekommen waren, um den schönen Tag auszukosten, waren stumm vor Erschütterung. Weltuntergangsbilder zogen vor dem inneren Auge der bestürzten Menschen vorüber. Isabelle ließ sich ohne auf ihr Kleid zu achten matt ins Gras sinken: die Engländer vor Québec … Der törichte Gedanke schoss ihr durch den Kopf, dass sie dieses Jahr keine Himbeeren auf der Bacchus-Insel 32 würden sammeln können, und dass die Engländer sich daran ergötzen würden… Sie sah zum azurblauen Horizont und wartete förmlich darauf, dort noch tausend weitere weiße Segel auftauchen zu sehen. Ihr Magen zog sich zusammen. Was sollte nur aus ihnen werden?
»Sie werden auf der Insel landen«, hauchte Madeleine mit entsetzter Miene. »Unser Haus, Julien … Diese Ungeheuer werden alles verwüsten!«
6
Schwanengesang
Auf dem Linienschiff HMS Prince Frederick knatterte die blaue Fahne mit dem roten Kreuz, die an der Spitze des Fockmasts hing, im Wind. Der mit vierundsechzig Kanonen bestückte Dreidecker von eintausendsiebenhundertvierzig Tonnen befand sich auf seiner dreiundzwanzigsten Reise. Die Möwen, die ihn seit Louisbourg begleiteten, hatten die Seeleute und die Takelung ohne Unterlass mit ihrem Kot bombardiert. Die Soldaten lachten darüber und erklärten, wenn das die gesamte Vorhut der Franzosen sei, dann täten diese gut daran, schon einmal mit dem Beten zu beginnen.
Der Himmel zeigte ein strahlendes, mit kleinen Wölkchen gesprenkeltes Blau. Am Horizont zeichnete sich ein Archipel aus kleinen Inseln
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